Theater Wasserburg inszeniert „Science-Fiction“-Drama von Heinrich Böll - Heute weitere Aufführung

  Vor ausverkauftem Haus führte das Theater Wasserburg am Freitag das „Science-Fiction“-Drama „Ein Schluck Erde“ von Heinrich Böll auf. Das Bühnenbild vermittelt den Eindruck einer Baustelle. Überall Metallstangen, wie man sie von Baustellen her kennen, in der Mitte aufgehängt ein Käfig, in dem „Dräs“ (hervorragend dargestellt von Annett Segerer) sitzt und sich nach etwas Essbarem sehnt. Sie selbst sagt auch mehrfach, dass sie Hunger habe. Sie sagt es ganz leise und auch ein wenig verschämt, denn der Begriff „Hunger“ ist tabu, man darf ihn nicht verwenden, selbst wenn alle darunter leiden.

Was ist passiert mit der Welt, in der „Ein Schluck Erde“ spielt?

Der Meeresspiegel ist sehr stark angestiegen und es gibt nur noch wenige Inseln, auf denen Leben möglich ist. Das Wasser fördert deshalb auch nicht in erster Linie Leben zutage, sondern ist zugleich Bedrohung. Der Anstieg des Wasserspiegels hat die Landmasse reduziert, weshalb die Akteure mehrfach von der „Verringerung“ sprechen, also jener Verkleinerung ihres Lebensraumes, der durch den Anstieg des Meeresspiegels verursacht worden ist.

„Trenner“, dargestellt von Carsten Klemm, gibt das Kommando vor. Er ordnet an, was gesagt und gedacht werden darf. Er ist der „weiße Wisser“, jener Typ eines Menschen, der gefühl- und gewissenlos agiert und seine Herrschaft durch diese Gefühlskälte zu stabilisieren sucht. Wenn sich plötzlich Mitleid regt, weil jemand verhungern könnte, wirft er nur ein: „Lass ihn sterben, dann haben wir einen Esser weniger“. Das Wasser ist der bedrohende Feind des Menschen, weshalb auch Fisch essen verpönt ist. Dräs hat aber nur einen Fisch zu essen und sie isst ihn, was die um sie herum stehenden „Wisser“ mit Abscheu zur Kenntnis nehmen. Wenn man hört,dass die Wissenden keinen Ekel kennen und gleich darauf gesagt wird, was alles Ekel erregt, dann merkt man, das die „Wisser“ Angst haben. Sie haben Angst jene Macht, die sie sich erworben haben wieder zu verlieren. Und deshalb haben sie das System errichtet: Mit Gewalt, mit Sprache, mit Tabus, mit dem Verbot alles „Lustigen“, also allem, was Lust bereitet.

Die „Wisser“ haben das gesellschaftliche Leben verändert, es herrscht eine Welt vor, in der alle Gefühle geächtet sind, Genuss, Gewissen, Gefühle und auch Erinnerung eine Gefahr für das System darstellen. Die „Wisser“, sie alle tragen eine weiße Kopfbedeckung, achten auf einen vernünftigen Lebenswandel, in dem die noch vorhandenen Ressourcen geschützt werden, in dem sparsam und gefälligst achtsam gelebt wird. Soll die weiße Kopfbedeckung eine oberflächliche Unschuld zur Schau tragen? Für Vergnügen, Heiterkeit und andere unproduktive Formen des Lebens ist da jedenfalls kein Platz. Und so gibt es in dieser Welt auch die Höchststrafe: Das ist die Taufe. Man wird im Käfig ins Wasser getaucht. Je schärfer die Strafe, desto tiefer und länger das Untertauchen.

Dräs gehört zu den „Kresten“, jener Gruppe, die einfach nicht begreifen will, dass nur eine Gesellschaft, in der Lachen, Mitleid, Sinnlichkeit und andere Formen der Lebensfreude verpönt ist, eine Zukunft haben kann und darf. Die weißen Wisser achten penibel darauf, dass alle den „Pfad der Lust“ verlassen und jene Freiheit erlangen können, anderen gegenüber gleichgültig zu werden. „Moral hat keinen Sinn“ erfährt der Zuschauer und „Auf das Leben folgt der Tod. Das ist unser Generationenvertrag“. Dräs erhält eine Flasche mit Milch und trinkt sie. Sie ist sehr gefangen vom Geschmack der Milch, die anderen verteufeln diese Flüssigkeit vorher als „stinkende Brühe“ und nach dem Genuss der Milch ruft Dräs mehrfach „Mutter“, ja sogar Trenner, der mächtige Wortführer der „Wisser“, spricht nach dem Milchgenuss dieses Wort aus, vor dem sich die „Wisser“ eigentlich fürchten.

„Es ist verboten, Lust zu machen“ erfährt der Zuschauer, um gleich darauf zu erkennen, dass „auch essen“ Lust sei. Bestimmte Begriffe wie „Liebe“ oder „Zuneigung“ haben die „Wisser“ verboten, die Akteure auf der Bühne sprechen nur von der „Möge“. Als am Schluss die „Kresten“ im Käfig lauthals beginnen zu lachen und nicht aufhören, mag man sich an den vor Gericht gestellten Alexej Nawalny erinnert haben, der auch aus dem Käfig heraus die russische Staatsmacht ausgelacht hat.

Lustfeindlichkeit und Gehorsam im Mangel und das Verschweigen der Nöte und des eigenen Leides, das sei das neue Lebensziel: „Alles, was Lust ist, ist lange her“, erfährt das Publikum. Und gegen Ende des apokalyptischen Szenarios entzünden Dräs und Imona (ausgezeichnet dargestellt von Amelie Heiler) mit einem Feuerzeug eine Flamme. Diese Flamme bietet wie so vieles Schutz und ist gleichzeitig Bedrohung und damit dem Wasser nicht unähnlich, denn auch hier gehen ja Schutz und Bedrohung miteinander einher.

Zum Schluss der knapp zweistündigen Darbietung stellt einer der Akteure die Frage: „Werde ich auch eine Bleibe haben?“ Der Begriff „Bleibe“ orientiert sich an dem Neusprech der „Wisser“, die von „Möge“ und „Labung“ sprechen. In einem Gespräch zu seinem Stück hat Heinrich Böll einmal geäußert, dass jede ideologisch motivierte Veränderung der Sprache gleichzeitig einen Angriff auf die Freiheit darstelle. Die Welt der Wehrlosen werde mächtiger durch die Sprache, meinte Böll selbst und hat damit auch zu bedenken geben können, dass „Ein Schluck Erde“ heute aktueller sein mag, als wir es uns eingestehen mögen.

Annett Segerer, Rosalie Schlagheck, Amelie Heiler, Carstem Klemm und Andreas Hagl haben an diesem Abend ein Publikum gefangen genommen, um es in die Freiheit zu entlassen, eine Freiheit, bei der einem schon manchmal das Lachen im Halse stecken zu bleiben drohte. Das Publikum, nachdenklich und nach Sprache zu ringen scheinend, quittierte das von Nik Mayr, Annett Segerer und Constanze Dürmeier inszenierte Drama mit lang anhaltendem Applaus. Ein Schluck Erde ist beides: Beschreibung einer Wirklichkeit, die entstehen könnte, wenn wir nicht genügend auf Lebensfreude und Sprache achten und uns von Verführern allzu leicht manipulieren lassen und es ist die Beschreibung einer Zukunftsvision, die uns schaudern lässt und das wohl auch soll.

Ein sehenswertes Stück, es wird am heutigen Sonntag (19 Uhr) und am 12., 13., 14. April, 17. und 18. Mai nochmlas ausfgeführt werden. Beginn ist freitags und samstag jeweils um 20 Uhr und an Sonntagen um 19 Uhr.

PETER RINK / Fotos: CHRISTIAN FLAMM