Theater Wasserburg: Langanhaltender, stürmischer Applaus für Premiere der „Physiker"

Wehe, wenn sie losgelassen! Die vier apokalyptischen Reiter aus dem neuen Testament haben Zuwachs bekommen: Erst waren es nur Krieg, Tod, Hungersnot und Krankheit, jetzt sind es auch noch drei Physiker und ein Fräulein Doktor. Zumindest beim Theater Wasserburg, das am Wochenende mit Dürrenmatts „Physikern“ eine fulminante Premiere feierte, die vom Publikum am Ende mit langanhaltendem Applaus belohnt wurde. Fotos: Christian Flamm

Der Inhalt von Dürrenmatts Tragikomödie ist hinlänglich bekannt: Sie startet mit einer Art Kriminalstück um drei Physiker in einer privaten Irrenanstalt. Jeder hat eine Krankenschwester, die ihn liebte, ermordet. Der zunächst forsch auftretende Kriminalinspektor verzweifelt allmählich am Irrsinn der Irrenanstalt. Bald schon kommt die Wahrheit hinter dem nur gespielten Wahnsinn ans Tageslicht: Zwei der Physiker behaupten, Newton und Einstein zu sein, sind aber tatsächlich Agenten. Sie wollen dem genialen dritten Physiker Möbius die „Weltformel“, die dieser aufgestellt hat, entreißen. Die Formel des Physikers Möbius beschreibt ein „System aller möglichen Erfindungen“. Newton und Einstein wollen diese Formel in ihren Besitz bekommen, und zwar zum Nutzen des Staates, für den sie jeweils arbeiten. Möbius hat allerdings im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte seine Forschungsergebnisse vernichtet, um sie vor möglichem Missbrauch zu schützen. Er kann die anderen beiden Physiker davon überzeugen, seinem Beispiel zu folgen und zum Wohle der Menschheit im Irrenhaus zu bleiben. Doch alle drei haben die Rechnung ohne Anstaltsleiterin Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd gemacht. Sie ist als Einzige in diesem Stück wirklich wahnsinnig und hat die Unterlagen von Möbius vor deren Vernichtung kopiert. Ihr Konzern nutzt bereits die Formel zur vernichtenden Ausbeutung der Welt. Möbius muss daraufhin erkennen: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurück­­genommen werden.“

Regisseurin Annet Segerer lässt die Protagonisten Einstein (Andreas Hagl), Dr. von Zahnd (Amelie Heiler), Newton (Hilmar Henjes) und Möbius (Nik Mayr) als apokalyptische Reiter durch die Geschichte preschen. Auf ihren (Stecken-)Pferden, das von Hilmar Henjes namens Jolante ist herzzerreißend knuddelig, reiten sie haarscharf am Abgrund der atomaren Vernichtung der Menschheit entlang. Segerer hat die rund 20 Rollen, die das ursprüngliche Stück zu bieten hat, in vier komprimiert. Alle Darsteller schlüpfen in verschiedene Rollen, ohne auch nur einmal ein Kostüm zu wechseln. Das hört sich gefährlich an, verliert man doch bei allzu vielen Doppel- und Dreifachrollen als Zuschauer gerne mal den Überblick. Indes: Die vier „Radioaktivisten“ zeichnen ihre Figuren derartig scharf, dass keine Fragen offenbleiben. Wie Andreas Hagl alleine mit seiner Stimme durch seine drei Rollen wechselt, ist schon das Eintrittsgeld wert.

Wie immer brillieren aber auch die alten Hasen. Wenn Hilmar Henjes Regen spielt, wo gar keiner ist, oder Nik Mayr sich mit Worten und Gesten durchs Stück und mit seinen Mitspielern duelliert, ist das einfach hinreißend. Die drei Jungs möchte man am liebsten mit nach hause nehmen – obwohl, oder gerade weil sie so wahnsinnig sind.

Und die Vierte im Bunde steht ihnen in nichts nach. Amelie Heiler hat wie immer eine enorme Bühnenpräsenz. Manchmal ist zu zum Fürchten – spätestens dann, wenn sie vom Fräulein Doktor zur machtbesessenen Furie mutiert und sich anschickt die Weltherrschaft zu übernehmen. Heiler ist leise, irre, laut, schlau – alles auf einmal. Da darf das Erotische natürlich auch nicht fehlen – Heilers Ritt auf ihrem roten Steckenpferd „Rosinante“ bis zum Orgasmus hat das Zeug, am Theater Wasserburg legendär zu werden.

Annett Segerer ist ein zauberhaftes Konzentrat gelungen. Ja, sicher, manchmal kommt es ein bisschen klamaukig daher (über „Nein! Doch! Ohh!“ freuten wir uns schon bei Louis de Funès). Und von der Tragikomödie bleibt so meist mehr Komödie als Tragik. Das aber sorgt dafür, dass sich das Publikum nicht nur in jeder der 86 Theater-Minuten köstlich amüsiert, sondern sich auch in vielen Szenen vor Lachen wegwirft. Das Bühnenbild (ein Reitstall im Irrenhaus) und die Kostüme tun ein Übriges. Man staunt, schaut, hört und freut sich über einen Klassiker, auf dem im Theater Wasserburg nicht ein einziges Staubkörnchen Platz findet. Und der Rahmen, in dem Dürrenmatt sein Stück verfasste, der Kalte Krieg der 60-er und 70-er Jahre, ist heute ohnehin so aktuell wie lange nicht mehr. Der Wahnsinn ist allgegenwärtig – auf der Welt und im Theater Wasserburg.

HC

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