Blinde Tastspezialistin untersucht Patientinnen in Frauenarztpraxis sanft, gründlich und apparatefrei
Die medizinisch-taktile Untersucherin Elvira Häußler erspürt kleinste Tumore mit den Fingerspitzen. „Ich habe meine wahren Fähigkeiten entdeckt und kann das Leben von Frauen retten.“
Elvira Häußler, 54, ist von Geburt an blind, lebte 25 Jahre in England als Beraterin für Studierende mit Behinderung, wohnte dann in Leipzig und hat neuerdings in München ihren Lebensmittelpunkt. Ihr ruhiger Blindenführhund Ashanti ist stets an ihrer Seite und begleitet sie auch zur Arbeit.
In der Gemeinschaftspraxis Frauenheilkunde Chiemgau in Bad Endorf startet die erfahrene qualifizierte medizinisch-taktile Untersucherin (MTU) ab 6. Februar beruflich neu durch: Die MTU ergänzt und verbessert dank ihres hervorragenden Tastsinns die Diagnosemöglichkeiten für Brustkrebs. Ihre spezielle Untersuchungsmethode heißt Taktilographie. Das Sozialunternehmen discovering hands hat den MTU-Beruf entwickelt und durch wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Taktilographie bestätigen lassen.
Jede Frau kann einen Termin bei der MTU wahrnehmen. Elvira Häußler untersucht dort jeweils am Donnerstag von 9 bis 15.30 Uhr Frauen jeden Alters. In der Praxis Patientin zu sein, ist keine Voraussetzung. Für die Untersuchung liquidiert die Praxis nach Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) im Regelfall 79 Euro. Private Krankenversicherungen und bereits circa 40 gesetzliche Krankenkassen übernehmen für ihre Versicherten die Kosten.
„Ich mache den Beruf nicht, obwohl, sondern weil ich eine blinde Frau bin“
„Ich habe den Beruf der medizinisch-taktilen Untersucherin ergriffen, weil ich sehr gerne mit Menschen arbeite“, erklärt Elvira Häußler. „Am meisten gefällt mir der Kontakt mit den Patientinnen. Ich mag das systematische Vorgehen bei meiner Arbeit. Es hat mir immer Spaß bereitet, mit meinen Händen etwas gründlich zu ertasten. Wenn ich dabei gleichzeitig Menschen helfen kann, ist das ein zusätzlicher Bonus. Es bereitet mir große Freude, dass meine Arbeit zu meinen Fähigkeiten passt. Ich mache den Beruf nicht, obwohl ich eine blinde Frau bin, sondern weil ich eine blinde Frau bin.“
MTU-Untersuchung in angenehmer Atmosphäre unter ärztlicher Verantwortung: Elvira Häußler verfügt aufgrund ihrer angeborenen Blindheit über einen besonders sensiblen Tastsinn: Die qualifizierte MTU kann etwa 30 Prozent mehr und bis zu 50 Prozent kleinere Gewebeveränderungen (ab etwa sechs Millimeter) finden als Ärzte (ab ein bis zwei Zentimeter), was Leben retten kann. Das Teamwork von Ärztinnen und MTU bietet den Patientinnen mehr Sicherheit: Die Tastspezialistin arbeitet unter ihrer Verantwortung. Eine Frauenärztin stellt im Anschluss an ihre Untersuchung aufgrund des MTU-Befundes die exakte medizinische Diagnose und nimmt, falls erforderlich, weitere Untersuchungen wie Ultraschall vor.
Die drei Gynäkologinnen der Frauenheilkunde Chiemgau Dr. Anja Franzen, Antje Weinert und Dr. Kathrin Faltl meinen: „Mit der Taktilographie können wir unseren Patientinnen noch mehr Sicherheit in der Brustkrebsfrüherkennung bieten. Frau Häußler hat viel mehr Zeit für die Brustuntersuchung als wir im Praxisalltag. Aufgrund ihres exzellenten Tastsinns ergänzt und verbessert sie die vorhandenen Diagnoseverfahren – ganz ohne Apparate – und ist eine kundige, sehr zugewandte Ansprechpartnerin für die Patientinnen rund um die Brustgesundheit.“
Den Tumor entdecken, bevor er gestreut hat: Ausgebildete medizinisch-taktile Untersucherinnen (MTU) können viel dazu beitragen, dass Brustkrebs diagnostiziert wird, solange ein Tumor noch nicht gestreut hat. Denn erst dann wird die Krankheit lebensbedrohlich. Ihren ausgeprägten Tastsinn nutzt die blinde MTU, um in 30 bis 60 Minuten (je nach Brustgröße) Brustgewebe sowie Lymphbahnen und -knoten an Hals, Brustbein und Achseln ihrer Patientin millimetergenau und sanft zu untersuchen. Selbstklebende haptische Orientierungsstreifen auf der Brust dienen ihr als Koordinatensystem.
Die allermeisten Befunde sind harmlose Gewebeveränderungen: „Ab einer Größe von sechs Millimetern können wir MTU-Befunde ertasten“, sagt Elvira Häußler. „Unsere Patientinnen vertrauen unserem besonderen Talent und können in entspannter Atmosphäre auch persönliche Fragen zur Brustgesundheit an uns stellen. Sie schätzen die schmerzfreie und sehr gründliche Untersuchung. Die allermeisten ertasteten Befunde sind harmlos oder befinden sich zum sehr großen Teil im Frühstadium und haben somit eine große Chance für einen guten Heilungsprozess.“
Ashanti – die ausgebildete Führhündin kann sogar Patientinnen beruhigen
Ashanti ist Elviras sechster Führhund. Die Hündin ist besonders ausgebildet und liegt im Untersuchungszimmer ruhig auf einer Decke in der Ecke. „Vor dem Gesetz ist die Hündin meine Gehhilfe“, erläutert Elvira Häußler. „Von ihr hängt meine Sicherheit ab“, erklärt die MTU. „Ashantis Rasse ist allergikerfreundlich. Das ist wichtig in meinem Job. Die meisten Patientinnen reagieren begeistert auf Ashanti.“ Ängstliche bekommen den Tipp, die Hündin nicht weiter zu beachten. „Ashanti bellt nur, wenn sie mich beschützen will. Ihre Anwesenheit kann sogar beruhigend wirken, etwa wenn aufgeregte Patientinnen sie vor der Untersuchung zunächst streicheln dürfen.“
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