Vortrag und Podiumsdiskussion gestern am Inn-Salzach-Klinikum in Gabersee
Am 14. Juli 1933 hat die Regierung des frisch begründeten NS-Staates im Rahmen des Ermächtigungsgesetzes ein Gesetz erlassen, das die Sterilisation von Menschen auch gegen ihren Willen vorsah. Betroffen von diesem Gesetz waren nicht nur geistig oder körperlich behinderte Menschen, sondern auch Patienten psychiatrischer Heil- und Pflegeanstalten sowie Alkoholkranke. Der NS-Staat setzte damit seine Grundsätze nationalsozialistischer Rassenhygiene um. Sie diente zur Rechtfertigung der Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, etwa in der „Aktion T4“ und der „Kinder-Euthanasie“, und zu Menschenversuchen in Konzentrationslagern. Im Rahmen dieser Aktion sind an die 400.000 Menschen in der NS-Zeit zwangssterilisiert worden und an die 6.000 Menschen ermordet worden. Am Inn-Salzach-Klinikum fand gestern eine Vortragsveranstaltung mit Podiumsdiskussion zu diesem Thema statt.
Prof. Dr. Frank Schneider von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hielt einen Vortrag über dieses Thema. Er wies darauf hin, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht selten als „Ballastexistenzen“ bezeichnet wurden.
Er erläuterte auch, dass es nach 1945 noch sehr lange Zeit in der Bundesrepublik ein „großes Schweigen“ zu diesem Thema gab und erst nach der bekannten Rede von Bundespräsident von Weizsäcker am 8. Mai 1985 man in Deutschland anfing, sich mit diesen Verbrechen eingehender zu beschäftigen.
Er betrachte bereits das Totschweigen dieser Verbrechen als Teil der Vernichtung dieser Menschen. Seit 2014 gebe es eine Wanderausstellung der DGPPN zur „Euthanasie“ im NS-Staat. Sie ist mittlerweile auf allen fünf Kontinenten gezeigt worden. Schneider betonte, dass die DGPPN aus ihren Fehlern gelernt habe, man sich der Vergangenheit bewusst sei und die Opfer anerkennen wolle.
Nach seinem Vortrag lud Prof. Dr. Peter Zwanzger zu einer podiumsdiskussion ein und bat die Besucher, ihrerseits Fragen zu stellen. An der Podiumsdiskussion nahmen neben Frank Schneider die Kunsthistorikerin Dr. Bettina Keß vom Bezirk Oberbayern, der ehrenamtliche Leiter des Psychiatriemuseums im Inn-Salzach-Klinikum Wolfgang Schmid und der Historiker und ehemalige Leiter des Luitpold-Gymnasiums Wasserburg Peter Rink teil.
In der Diskussion kamen noch einmal wichtige Aspekte der Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Diktatur und die Frage der Pflege einer Erinnerungskultur zur Sprache. So bemerkte Schneider, dass es sehr wichtig sei, den Opfern ihre Namen zurückzugeben, auch das Schweigen nach 1945 sei ein großes Verbrechen gewesen. Wolfgang Schmid wies auf die vielen kleinen Schicksale der Menschen hin, deren Andenken es hochzuhalten gelte. Er erwähnte auch seinen Vater, der Pfleger in Gabersee gewesen sei und dass das Schweigen nach 1945 auch in seiner Familie lebendig gewesen sei, worunter auch er gelitten habe.
Auch Peter Rink betonte, dass eine Erinnerungskultur gepflegt werden müsse, damit man nicht in die Verlegenheit gerate, solche Verbrechen erneut zu begehen. Er verwies auf Martin Niemöller und auf Max Mannheimer, der einmal im Jahr in die Schule gekommen sei und von seinem Schicksal erzählt habe. Sein Satz: „Vergesst nicht, sonst seid Ihr verurteilt, es noch einmal zu erleben!“ habe bei der Schülerschaft immer wieder große Betroffenheit erzeugt. Auch der jetzt in Schweden lebende 99-jährige Leon Weintraub habe einmal das Luitpold-Gymnasium besucht und bei der Schülerschaft eine riesige Betroffenheit erzeugt.
In der Podiumsdiskussion wurde aber auch darauf hingewiesen, dass es eine besondere Fähigkeit der Deutschen sei, auch negative Erinnerungen im Rahmen einer Gedenkkultur zu pflegen und als Mahnung weiterzutragen. Wenn man daran denke, wie man beispielsweise in der Türkei oder auch den USA negative Traditionen der eigenen Geschichte konsequent verschweige, so seien da die Deutschen weiter.
Zeitzeugen seien ein unverzichtbares Element einer gelebten Erinnerungskultur, wurde aus dem Podium angemerkt. Leider gebe es nicht mehr viele. Von daher müsse man nunmehr auf „Zweitzeugen“ zurückgreifen, also junge Menschen, die Zeitzeugen kennen und ihr Wissen weitergeben könnten. In mehreren Schulen werde eine solche Kultur bereits gepflegt.
Zur Frage der Schuld der Medizin wurde schließlich noch eingeworfen, dass es in Deutschland nach 1945 einen wichtigen Paradigmenwechsel gegeben habe: Im Zentrum der Aufmerksamkeit sei nicht länger die Gemeinschaft, das Volk („Du bist nichts, Dein Volk ist alles“) gestanden, sondern der einzelne Mensch, wie es im Artikel 1 des Grundgesetzes steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dadurch sei der Wert eines Menschen eben nicht mehr in einem Geldbetrag fixierbar. Auch der Begriff der „Parasitenexistenz“ oder der des „Minderwertigen“ für Menschen, die sich krankheitsbedingt nicht selbst ernähren konnten, wurde nicht mehr verwendet.
Aber es müsse auch erwähnt werden, dass es nach 1945 gedauert habe, bis man sich seiner Geschichte auch in Deutschland gestellt habe: Noch 1956 habe der Bundesgerichtshof geurteilt, dass z.B. Sinti und Roma an ihrer Verfolgung eine Mitschuld trügen, denn die Maßnahmen gegen die „Zigeuner“ seien durchaus zulässig gewesen, weil man es hier mit einer „Asozialität“ zu tun gehabt habe.
In der Tiergartenstraße 4 schließlich, dem Ort, an dem die „T4“-Aktion auf den Weg gebracht wurde, stehe erst seit 2014 eine Gedenktafel für die Opfer der „T4-Aktion“ der Nationalsozialisten.
Es gehe heute darum, die Freiheit in unserer Gesellschaft zu wahren und zu schützen, denn sie schütze vor Irrwegen. Ohne Freiheit gebe es keine Menschenwürde und umgekehrt gelte das auch: Ohne den Schutz der Menschenwürde könne es keine Freiheit geben.
Das Publikum quittierte die Podiumsdiskussion mit längerem Applaus. Peter Zwanzger lud anschließend noch zu einem Umtrunk ein.
RED
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