Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 10 / Radfahren auf Fußwegen am Inn wird untersagt

Hitler bleibt Österreicher, Wasserburg verbietet das Radfahren auf den Fußwegen am Inn, von Brot bis Bier wird alles immer noch teurer und die Diebstähle in der Region häufen sich – so sieht die zweite Maihälfte 1923 aus. „Bemerkenswert ist der Inflationsschub“, erläutert Historiker Peter Rink. „Kostete Anfang Mai der US-Dollar noch 29.725 Mark, so waren es am 15. Mai bereits 45.885 Mark, und am Ende des Monats Mai musste man für einen US-Dollar bereits 60.000 Mark aufbringen, damit hatte sich der Wert der Mark innerhalb eines Monats halbiert.“ Mehr über die Ereignisse in der zweiten Maihälfte 1923 hat Peter Rink anhand von Originaltexten aus dem Wasserburger Anzeiger 1923 für die Wasserburger Stimme 2023 zusammengetragen:

Es geht los mit der allgemeinen  …

WELTCHRONIK für die zweite Maihälfte 1923

16. Mai
Zur Förderung des republikanischen Bewusstseins in der Öffentlichkeit gründen die Politiker Otto Wels (SPD), Joseph Joos (Zentrum), Otto Nuschke (DDP) u.a. im Berliner Reichstagsgebäude die gemeinnützige Aktiengesellschaft für Buch und Presse, die aus Staatsmitteln finanziert wird.

Der schwedische Reichstag beschließt, Frauen grundsätzlich zu allen Staatsämtern zuzulassen.

17. Mai
Bei Ernst Cassirer (Berlin) erscheint das Buch “Geist der Utopie” von dem Philosophen Ernst Bloch.

Auf der 400 km langen Telefonversuchsleitung Berlin- Stolp wird eine neue Technik mit Hochfrequenzgeräten erfolgreich erprobt.

Allmählich steigern die Franzosen und Belgier den Kohlenabtransport aus dem besetzten Ruhrgebiet. In der ersten Maiwoche waren es durchschnittlich 12 500 t Kohlen und Koks täglich (= 35% des Solls). Die Auswirkungen des passiven Widerstands fangen die Besatzungsmächte durch die eigene Kontrolle der Eisenbahn und die Anwerbung von freiwilligen Arbeitskräften auf.

Gegen die Ausweisung der Eisenbahnbeamten aus dem besetzten Rhein- und Ruhrgebiet erhebt die deutsche Reichsregierung Protest in Paris, Brüssel und London. Die Eisenbahner werden mit ihren Familien in das unbesetzte Deutsche Reich ausgewiesen, weil sie den Anordnungen der französischen Eisenbahnregie nicht Folge leisten.

Der Vorstand der sächsischen SPD beschließt, auch offiziell proletarische “Abwehrorganisationen” mit der KPD zusammen zu bilden. Gleichzeitig überträgt die sächsische Regierung diesen Proletarischen Hundertschaften halbamtliche hilfspolizeiliche Funktionen.

18. Mai
In der Frankfurter Paulskirche findet die Gedenkfeier zur Eröffnung des ersten deutschen Parlaments (18. 5. 1848) vor 75 Jahren statt, an der Reichspräsident Friedrich Ebert und Vertreter der deutschen Länder außer Bayern teilnehmen.

Mehrere Mannheimer werden schwer verletzt, als französische Soldaten in der Nacht ohne erkennbaren Anlass auf Passanten zu schießen beginnen.

Die Tagung der Grenz- und Auslandsdeutschen beginnt in Flensburg und Hamburg. Sie dauert bis zum 24. Mai.

19. Mai
Bewaffnete Separatisten, die für eine autonome Rheinische Republik kämpfen, unternehmen in Trier einen Putschversuch, der am Widerstand der Bevölkerung und der deutschen Polizei scheitert. Die rheinischen Separatisten stehen unter der Protektion der französischen Besatzungsmacht.

„Julius Cäsar und seine Mörder”, ein Trauerspiel von Martin Langen, wird im Berliner Theater in der Kommandantenstraße uraufgeführt.

20. Mai
Eine kommunistisch-unionistische Betriebsrätekonferenz proklamiert für den Bergbau und die Metallindustrie im Ruhrgebiet den Generalstreik, um eine 50%ige Lohnerhöhung durchzusetzen. Am 28. Mai kommt es zu einer Einigung des Arbeitgeberverbands und der Arbeitnehmerverbände des Ruhrbergbaus. Blutige Auseinandersetzungen in mehreren Städten gehören zu den Begleiterscheinungen des Streiks.

Der britische Premierminister Andrew Bonar Law (Konservative Partei) tritt wegen einer schweren Kehlkopferkrankung zurück. Sein Nachfolger im Amt ist der bisherige Schatzkanzler Stenley Baldwin (Konservative Partei), der am 22. Mai die Regierung übernimmt.

21. Mai
In Hamburg wird der Internationale Sozialistenkongress eröffnet (bis 25. Mai). Über 400 Delegierte aus 30 Ländern nehmen an dem Kongress teil. Als ständige Exekutivorganisation des Kongresses wird die Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI) gegründet. Eine der Forderungen des Kongresses ist der achtstündige Maximalarbeitstag.

22. Mai
Der ehemalige britische Premierminister David Lloyd George (1916-1922) greift den am 20. Mai zurückgetretenen Premierminister Andrew Bonar Law wegen seiner “schwache[n] Behandlung der Ruhrfrage” an, die “Europa von neuem in Unordnung, Krisen und Konflikte” stürze und fordert außenpolitische Initiativen der britischen Regierung zur Lösung des Konflikts.

Die Börsennotierung für den US-Dollar ist derzeit 53.000 Mark.

23. Mai
Die Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses wird in Iserlohn eröffnet (bis 25. Mai).

Der Ministerpräsident des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, Nikola Pašić, lehnt die kroatischen Autonomieforderungen ab.

„Der arme Vetter” von Ernst Barlach hat in der Inszenierung von Jürgen Fehling Premiere im Staatstheater zu Berlin.

24. Mai
Großen Beifall erntet die Premiere des Dramas “Der tote Tag” von Ernst Barlach an der Berliner Volksbühne, der besonders der schauspielerischen Leistung von Agnes Straub, Aribert Wäscher und Fränze Roloff gilt.

Nach schweren Niederlagen des radikalen Flügels der Sinn-Fein-Bewegung befiehlt deren Führer Eamon de Valera die Feuereinstellung, womit der seit Juni 1922 mit äußerster Härte geführte irische Bürgerkrieg beendet wird.

Mit 183 gegen 109 Stimmen beschließt der französische Senat, die Sommerzeit einzuführen.

Während der Ruhrdebatte der französischen Kammer sagt Ministerpräsident Raymond Poincaré, Frankreich sei entschlossen, die restlose Eintreibung seiner Forderungen zu betreiben. Davon könne es nur abgehen, wenn die USA Frankreich bei der Rückzahlung der Kriegsschulden Erleichterung gewähre. Poincaré bestreitet Eroberungs- und Annexionsabsichten.

Der französische Senat als Staatsgerichtshof lehnt die Anklage gegen den kommunistischen Abgeordneten Marcel Cachin ab. Cachin und anderen Kommunisten wird ein angebliches Komplott gegen die Sicherheit des Staates vorgeworfen. Ministerpräsident Raymond Poincaré reagiert auf den Senatsbeschluss mit der Einreichung seiner Demission, die Präsident Alexandre Millerand aber nicht annimmt.

Vorsitzender der Sozialistischen Jugendinternationale, die ihre Gründungsversammlung bis zum 26. Mai in Hamburg abhält, wird Erich Ollenhauer.

25. Mai
Transjordanien wird zu einem unabhängigen Staat proklamiert und damit völlig von Palästina abgesondert. Nach dem Weltkrieg kamen Transjordanien und Palästina unter britisches Mandat.

Zur Regelung der deutschen Reparationszahlungen sollten nach einem Vorschlag der belgischen Regierung von der Reparationskommission zu kontrollierende Staatsmonopole für Alkohol, Zucker, Tabak und den Eisenbahnbetrieb eingerichtet werden. Der Ertrag dieser Monopole wird auf zwei Millionen Goldmark geschätzt.

Die Interalliierte Rheinlandkommission weist 585 passiven Widerstand leistende Beamte der deutschen Eisenbahnverwaltung aus dem besetzten Rheinland aus.

In einer Denkschrift an Reichskanzler Wilhelm Cuno bietet der Reichsverband der deutschen Industrie eine Garantie für die Reparationszahlungen des Deutschen Reichs an. Gleichzeitig fordert der Reichsverband, dass sich Grundbesitzer und Arbeitnehmer an der Garantie beteiligen sollen.

26. Mai
Der wegen Spionage und Sabotage vom französischen Kriegsgericht in Düsseldorf zum Tode verurteilte Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter (8. 5.) wird trotz zahlreicher Gnadengesuche auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf standrechtlich erschossen. Es ist das einzige vollstreckte Todesurteil gegen deutsche Saboteure.

Die polnische Regierung unter Ministerpräsident Wladyslaw Eugeniusz Sikorski wird gestürzt. Mit der Ablehnung des Dispositionsfonds für den Ministerpräsidenten und das Außenministerium erzwingen die Rechtsparteien, die Minderheiten und die Bauernpartei den Rücktritt der Regierung Sikorski.

Zum ersten Mal findet das 24-Stunden-Rennen von Le Mans statt, das zwei Franzosen mit einem Chenard & Walcker-Fahrzeug gewinnen.

27. Mai
Für den Parteiausschluss der Juden stimmt die Mehrheit des Hamburger Landesparteitags der Deutschen Volkspartei (DVP), die Partei Gustav Stresemanns.

Der Oberbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen, Jean Marie Degoutte, droht allen verbliebenen Eisenbahnern im besetzten Ruhrgebiet ultimativ die Ausweisung an, wenn sie sich nicht innerhalb von zwei Tagen der französischen Eisenbahnverwaltung zur Verfügung stellen.

In Bochum kommt es zu schweren Kämpfen zwischen Kommunisten und Einheiten der Feuerwehr und des Selbstschutzes der Gewerkschaften. Letzterer übernimmt die Aufgaben der von den Franzosen aufgelösten Schutzpolizei.

28. Mai
Wincenty Witos, der Nachfolger des am 26. Mai gestürzten polnischen Ministerpräsidenten Wladyslaw Eugeniusz Sikorski, bildet eine neue Regierung, die einen Sieg der Nationalisten bedeutet.

29. Mai
Die streikenden Arbeiter im Ruhrgebiet akzeptieren die angebotene Lohnerhöhung von 50 Prozent, der auch die Kommunisten zustimmen.

Der vom Reichstag eingesetzte Ausschuss zur Untersuchung des Marksturzes tritt zusammen.

Nachdem der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré die Abstimmung über Kredite für die Ruhrbesetzung mit der Vertrauensfrage verbunden hat, werden diese von der französischen Kammer mit großer Mehrheit (505 gegen 67 Stimmen) gebilligt.

30. Mai
Marschall Jósef Klemens Pilsudski, der Chef des Generalstabs in Polen, legt aus Protest gegen die Durchsetzung der Nationaldemokratie seine Ämter nieder.

31. Mai
In Köln sprechen sich Vertreter der SPD und des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) für die Fortsetzung des passiven Widerstands im besetzten Ruhrgebiet aus.

Der kommunistische Misstrauensantrag gegen die SPD-Regierung Thüringens scheitert, weil die bürgerliche Opposition, um die von den Kommunisten angestrebte Regierungsbeteiligung zu verhindern, den Antrag ablehnt.

In Parchim bei Schwerin fällt Walter Kadow, Mitglied der rechtsradikalen Deutschvölkischen Freiheitspartei, einem Fememord zum Opfer.

In der britischen Presse wird betont, dass die gründliche Abschätzung der deutschen Leistungsfähigkeit die Vorbedingung jeder künftigen Reparationsleistung sein müsse.

Mit durchschnittlich 47.700 Mark ist der US-Dollar im Mai notiert gewesen. Am Monatsende erreicht er den Wert von 60.000 Mark.

 

DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ANIMOSITÄTEN

Anmerkung: Der „passive Widerstand“ gegen die Besetzung des Rheinlandes und des Ruhrgebietes durch Frankreich geht weiter, er führt zu Ernährungsnotständen bei der Bevölkerung und zu Entscheidungen der französischen Besatzung, die von den Deutschen als schweres Unrecht empfunden werden.

„Zwischen den Klippen“ (Zur Antwort Deutschlands auf ein Schreiben von Lord Curzon zur Reparationenfrage):

(WA 111/1923 vom 16. Mai)

 

„Besetzung der badischen Anilin- und Sodafabrik“ :

(WA 111/1923 vom 16. Mai)

 

„Eine neue deutsche Protestnote“:

(WA 113/1923 vom 18. Mai)

 

„Deutsche Protestnote gegen den Schulraub“:

(WA 115/1923 vom 22. Mai)

 

„Frankfurt vor neuer Besetzung“:

(WA 118/1923 vom 26. Mai)

 

„Poincaré will zurücktreten“:

(WA 118/1923 vom 26. Mai)

 

„Kindertransporte“:

(WA 121/1923 vom 30. Mai)

 

INFLATIONSAUSWÜCHSE

„Bekanntmachung“:

(WA 118/1923 vom 26. Mai)

 

„Dreifache Brotpreiserhöhung“:

(WA 118/1923 vom 26. Mai)

 

„Der Mehlpreis“:

(WA 119/1923 vom 27. Mai)

 

„Die Zigaretten werden teurer“:

(WA 120/1923 vom 29. Mai)

 

„Beträchtliche Bierpreiserhöhung“:

(WA 121/1923 vom 30. Mai)

 

„Auch die Pensionen werden neu geregelt“:

(WA 119/1923 vom 27. Mai)

 

VERMISCHTES AUS DER 2. MAIHÄLFTE 1923

„100.000 Mark Belohnung“:

(WA 111/1923 vom 16. Mai)

 

„Japanische Frauenwünsche“:

(WA 113/1923 vom 18. Mai)

 

INNENPOLITISCHES IN DER 2. MAIHÄLFTE 1923

Anmerkung: Der Nationalsozialist Leo Schlageter wird zum Tode verurteilt und hingerichtet, was naturgemäß große Proteste der NSDAP nach sich zog. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber, dass auch die Kommunisten sich an diesen Protesten der NSDAP beteiligten.

Anmerkung 2: Der in Deutschland lebendige Antisemitismus führt dazu, dass der Hamburger Parteitag der DVP (Partei Gustav Stresemanns) den Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus der Partei beschließt.

 

„Zeitungsverbot“:

(WA 118/1923 vom 26. Mai)

 

„Gesinnungslump“:

(WA 119/1923 vom 27. Mai)

 

„Hitler bleibt Österreicher“:

(WA 121/1923 vom 30. Mai)

 

WASSERBURG UND UMGEBUNG IN DER ZWEITEN MAIHÄLFTE 1923

„Denkmalspflege und Museumskurs im bayerischen Alpenland“:

(WA 111/1923 vom 16. Mai)

 

„Wasserburg – Der Fremdenverkehr …“:

(WA 113/1923 vom 18. Mai)

 

„Diebstähle“:

(WA 113/1923 vom 18. Mai)

 

„Rechtmehring – Ehrlichkeit“:

(WA 113/1923 vom 18. Mai)

 

„Von einem Auto überfahren“:

(WA 116/1923 vom 24. Mai)

 

„Prien – nächtliche Bubenstücke“:

(WA 116/1923 vom 24. Mai)

 

Zum Thema „Radfahrer auf Fußwegen“:

(WA 121/1923 vom 30. Mai)

 

Wie sich in der ersten Junihälfte alles weiterentwickelt …

…  wird in Teil 11 der Serie zu lesen sein, die in Kürze folgt.

PETER RINK

Bildernachweis:

Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)

Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg

StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt