Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 9 / Hitlers Moraltheorie und der erste Muttertag

Bis zum 8. Mai 1945 sollte es vom Mai 1923 aus betrachtet noch ein langer, brutaler, grausamer Weg werden. Das Grauen zeichnete sich allerdings schon ab: Kinder sind unterernährt, das Geld entwertet, die Stimmung feindlich, die Politik hitzig. „Das militante Auftreten der Nationalsozialisten empört viele, in Bayern erfährt die NSDAP hingegen ein großes Entgegenkommen und heimliche Unterstützung, auch aus den Reihen der Polizei“, beschreibt Historiker Peter Rink die Lage. Hitler forderte in dieser Zeit – wie unter dem Titel „Die Maischlacht Hitlers“ nachzulesen war – zu Unrecht und Unsittlichkeit auf, damit es wieder gerecht und sittlich zugehen möge. Mehr über die Ereignisse in der ersten Maihälfte 1923, wie etwa auch die Einführung des Muttertags, hat Peter Rink wieder anhand des Wasserburger Anzeigers 1923 für die Wasserburger Stimme 2023 zusammengetragen:

Es geht los mit der allgemeinen  …

CHRONIK für die erste Maihälfte

1. Mai 1923
Nur die Präsenz von Reichswehreinheiten und Landespolizei hindert die Nationalsozialisten daran, die große Mai-Demonstration der Linken in München gewaltsam zu stören. Adolf Hitlers Aufgebot umfasst etwa 1200 Mann (hauptsächlich Mitglieder der Sturmabteilung), zu deren Bewaffnung auch Maschinengewehre gehören.

Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Aufsichtsratsvorsitzender der Firma Krupp, wird von den Franzosen in Essen verhaftet.

Im Verlauf des britisch-sowjetischen Konflikts über Fischereirechte werden britische Fischkutter an der Murmanskküste beschlagnahmt. London erhebt scharfen Protest bei der sowjetischen Regierung und entsendet ein Kanonenboot in das Gebiet.

2. Mai 1923
Ein US-Dollar hat derzeit einen Kurs von 31.700 Mark.

Die Deutsche Reichsregierung übermittelt den Signatarstaaten des Versailler Vertrags (1919) einen neuen Vorschlag zur Reparationsfrage. Sie bietet an, insgesamt 30 Milliarden Goldmark zu zahlen.

3. Mai 1923
In einem gemeinsamen Aufruf wenden sich die deutschen Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und Frauenverbände entschieden gegen die französischen Bestrebungen, eine autonome Rheinische Republik zu errichten, die einer „Loslösung vom Reich” gleichkomme.

Die direkte Flugverbindung Berlin- London wird aufgenommen. Bisher flogen die deutschen und britischen Flugzeuge jeweils nur bis Amsterdam, wo die Passagiere umsteigen mussten. Der Flug dauert etwa neun Stunden.

Der erste Nonstopflug über den amerikanischen Kontinent ist gelungen.

4. Mai 1923
Nach einer nationalsozialistischen Versammlung in den Wiener Rosensälen treffen die Nationalsozialisten auf die sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter, die von der Polizei an der Störung der Versammlung gehindert worden waren. Bei dem Zusammenstoß wird ein Arbeiter erschossen, und 50 Personen werden verletzt.

Die Mehrheit des preußischen Landtags lehnt den Misstrauensantrag der Deutschnationalen gegen Innenminister Carl Severing (SPD) ab. Als den Kommunisten die Erklärung ihrer Unterstützung Severings verwehrt wird, kommt es zu einer Prügelei zwischen KPD- und SPD-Abgeordneten. Weitere Tumulte führen zum vorübergehenden Ausschluss von 17 Kommunisten. Polizei schützt die Sitzungen des Landtags.

5. Mai 1923
Reichsfinanzminister Andreas Hermes erklärt das wachsende Haushaltsdefizit – für Januar bis März stehen sechs Billionen Mark Ausgaben den Einnahmen von nur 1,7 Billionen Mark gegenüber – mit der durch den Ruhrkampf verursachten „ungeheuren Geldentwertung”.

Nach Angaben der Reichsbank haben die Franzosen in den besetzten Gebieten an Rhein und Ruhr bisher zirka 30 Milliarden Mark beschlagnahmt.

Max Liebermann, der Präsident der Akademie der Künste in Berlin, eröffnet die Frühjahrsausstellung.

6. Mai 1923
Schroff ablehnend beantworten die französische und belgische Regierung das deutsche Angebot vom 2. Mai, 30 Milliarden Goldmark Reparationen zu zahlen.

7. Mai 1923
Gegen die Beschwerde der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP) stellt der Reichstag mit 203 gegen 116 Stimmen fest, dass die DVFP-Abgeordneten durch die polizeiliche Schließung ihrer Büros (13. April) in ihrer Tätigkeit nicht beeinträchtigt seien.

8. Mai 1923
Mit dem Abbruch der Handelsbeziehungen droht die britische Regierung der Sowjetunion, wenn diese nicht ihre antibritische Propaganda in Persien, Indien und Afghanistan aufgebe. Am 13. Mai gibt die Sowjetunion nach.

Wegen Geheimbündelei, Spionage für deutsche Behörden und Sabotage an Eisenbahnanlagen wird der Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter (NSDAP) vom französischen Kriegsgericht in Düsseldorf zum Tode verurteilt.

Das französische Kriegsgericht in Werden verurteilt Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Chef des Krupp-Unternehmens, zu 15 Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 100 Millionen Mark. Acht Direktoren und Werksleiter erhalten ebenfalls Gefängnisstrafen. Die Verurteilten werden für schuldig an dem blutigen Zwischenfall in den Essener Krupp-Werken am Karsamstag befunden.

9. Mai 1923
Der Reichstag protestiert gegen das Urteil im Krupp-Prozess, das den Hass zwischen dem deutschen und dem französischen Volk vertiefen werde. Am Vortag hat Reichspräsident Friedrich Ebert das Urteil als einen „jeder Menschlichkeit Hohn sprechende[n] Gewaltakt” bezeichnet.

Inszeniert von Erich Engel wird Bertolt Brechts „Im Dickicht der Städte”, ein Drama in zehn Bildern, im Münchener Residenztheater uraufgeführt. Massive Proteste sorgen für die Entlassung des Dramaturgen Jakob Geis und die rasche Absetzung des Stücks, das nur sechsmal aufgeführt wird.

10. Mai 1923
Die Einreise in das besetzte Rheingebiet ist laut Verordnung der Rheinlandkommission nur noch mit einem besonderen Visum erlaubt.

In Lausanne wird Waclaw W. Worowski, Leiter der sowjetischen Delegation bei der Konferenz von Lausanne, ermordet. Unmittelbar nach der Tat wird der Mörder Moritz Conradi, ein Russlandschweizer, verhaftet. Der Mord verursacht einen scharfen Notenwechsel zwischen der Schweiz und der Sowjetunion.

Die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt in Hamburg gegen die Niederlande 0:0.

11. Mai 1923
Die bayerische Regierung erlässt eine Verordnung, die eine scharfe Kontrolle von Aufmärschen und Versammlungen unter freiem Himmel ankündigt und die Aufforderung zu Gewalttätigkeiten mit verschärften Strafen bedroht.

Die Mark verliert wieder laufend an Wert. Derzeit entsprechen 40 500 Mark einem US-Dollar.

12. Mai 1923
Der Internationale Frauenstimmrechtskongress beginnt in Rom. Delegationen aus 40 Ländern nehmen an der Tagung teil.

In Preußen werden die Proletarischen Hundertschaften, die militärähnlichen Kampfverbände unter kommunistischer Führung, verboten, weil diese sich am 1. Mai mit der Durchführung von Straßenpatrouillen staatliche Hoheitsrechte angemaßt hatten.

Nach der Debatte über das Verbot der Deutschvölkischen Freiheitspartei, in deren Verlauf die Reichsregierung von den Rechtsparteien zum Teil scharf angegriffen wird, lehnt der Reichstag die von den Deutschnationalen (DNVP) beantragte Aufhebung des Republikschutzgesetzes vom 21. Juli 1922 ab.

13. Mai 1923
Großbritannien und Italien lehnen das deutsche Verhandlungsangebot vom 2. Mai als indiskutabel ab, weil es die Bereitschaft zur Erfüllung der Reparationspflichten nicht erkennen lasse. Die angebotene Summe (30 Milliarden Goldmark) liege weit unter den Erwartungen.

Erstmals wird im Deutschen Reich der Muttertag allgemein gefeiert.

Der posteigene Radiosender Königswusterhausen beginnt seine regelmäßigen Sonntagskonzerte.

14. Mai 1923
Die Fluglinie München- Wien wird eröffnet, nachdem am 3. Mai die Österreichische Luftverkehrs-AG (ÖLAG) gegründet wurde.

15. Mai 1923
In Texas hat ein Wirbelsturm erheblichen Schaden angerichtet. Elf Personen verlieren in dem Unwetter ihr Leben.

Die Franzosen besetzen die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF) in Ludwigshafen und die Farbwerke Höchst, weil Farbstoffe beschlagnahmt und abtransportiert werden sollen.

Der Dollarkurs schnellt auf 45.885 Mark hinauf.

 

DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ANIMOSITÄTEN

Anmerkung: Das Angebot Deutschlands, insgesamt 30 Milliarden Goldmark als Reparationen zahlen zu wollen, wenn dafür die Ruhrbesetzung beendet wird, wird von den Alliierten abgelehnt. Stattdessen geht das von den Deutschen als viel zu brutal empfundene Besatzungsregime weiter. Briten und vor allem US-Amerikaner versuchen vergeblich, mäßigend auf Frankreich einzuwirken.

 

 

 

INFLATIONSAUSWÜCHSE

Zur deutschen Eierversorgung
Vor dem Kriege wurden in Deutschland jährlich 9 Milliarden Eier verzehrt, von denen 4 Milliarden aus dem Ausland bezogen werden mußten. 1912 zählte man in Deutschland ca. 72 Millionen Hühner, 1920 nurmehr 53 Millionen, was einen Produktionsrückgang von 2 Milliarden Eiern bedeutet. Heute fallen die 4 Milliarden Auslandseier ganz für Deutschland weg und außerdem 2 Milliarden Inlandseier, sodaß Deutschland statt 9 Milliarden nur noch 3 Milliarden zur Verfügung hat.
(WA 101/1923 vom 3. Mai)

Der Milchpreis in München
Beträgt seit 1. Mai 940 Mark.
(WA 101/1923 vom 3. Mai)

 

 

 

 

VERMISCHTES AUS DER 1. MAIHÄLFTE 1923

Deutsche Kriegsgefangene in Rußland
Berlin 1. Mai. Nach dem Ermittlungen der Reichszentralstelle für Kriegsgefangene dürfte entgegen anderslautenden Melsungen die Zahl der in Moskau und Umgebung noch verbliebenen Kriegsgefangenen kaum 100 betragen, darunter 4 bis 5 Deutsche. Der Bezirk Petersburg und die Ukraine gelten als völlig geräumt. Das gesamte übrige Rußland einschließlich Sibirien dürfte an ehemaligen Kriegsgefangenen nur noch etwa 200 bis 300 Reichsdeutsche beherbergen, von denen aber der größte Teil die Absicht der Heimkehr aufgegeben hat.
(WA 101/1923 vom 3. Mai)

Landshut, 1. Mai. Eine Schreckenstat ereignete sich in Oberaichbach, die ihren Grund in Familienzwistigkeiten haben soll. Ein gewisser Ziegler verletzte mit einem Revolver den Wirt Raßhofer lebensgefährlich, ebenso eine Frau namens Drexlmaier, die bereits gestorben ist. Darauf erschoß sich der Täter dann selbst.
(WA 101/1923 vom 3. Mai)

 

INNENPOLITISCHES IN DER 1. MAIHÄLFTE 1923

Verbot der nationalsozialistischen Arbeiterpartei in Hessen
Darmstadt, 1. Mai. Die Regierung hat auf Grund des Republikschutzgesetzes die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei für das Gebiet des Freistaates Hessen verboten und ihre Ortsgruppen für aufgelöst erklärt.
(WA 99/1923 vom 1. Mai 1923)

 

Die Maischlacht Hitlers
Die Bayerische Volksparteikorrespondenz schreibt: In einer der letzten Versammlungen im Zirkus Krone sprach Adolf Hitler die bezeichnenden Worte: „Mögen wir Unrecht tun! Aber wenn wir Deutschland retten, haben wir das größte Unrecht der Welt wieder beseitigt. Mögen wir unsittlich sein! Aber wenn unser Volk gerettet wird haben wir der Sittlichkeit wieder Bahn gebrochen.“
Diese macchiavellistische politische Moralthese beleuchtet die ganze nationalsozialistische Kampfmethode und die geistige Verfassung der Führer dieser Bewegung auf das grellste, mehr als der phrasen- und posenreiche Verkünder dieser unmoralischen politischen Moral vielleicht beabsichtigt hat. (…) Auf dieser abschüssigen Bahn befinden sich die Nationalsozialisten und ihre politischen Trabanten. Die eigenartige Rolle, welche sie in diesen Tagen gespielt haben, hat das Urteil bestärkt, daß die nationale Bewegung teilweise in Händen von Männern ruht, die weder nach Geist noch Charakter das Zeug zum nationalen Führer haben.
(WA 103/1923 vom 5. Mai)

 

 

WASSERBURG UND UMGEBUNG IN DER ZWEITEN APRILHÄLFTE 1923

Wasserburg, 2. Mai (Der 1. Mai.) Auch Wasserburg hatte gestern seine Maifeier. Ein dem flüchtigen Blicke sehr imposant erscheinender Zug bewegte sich durch unsere Stadt. Der Demonstrations- und Festzug wird als doppelt so lang wie der vorjährige geschildert, allein die Länge war zum guten Teil eine künstliche. Reichlich abgemessene und stramm eingehaltene Zwischenräume sorgten für die nötige Länge. Und was Wasserburg nicht allein vermochte, das vermochte es mit Hilfe der Kanalarbeiter von Jettenbach, die nahezu die Hälfte der Teilnehmer ausgemacht haben sollen.
(WA 100/1923 vom 2. Mai)

Wasserburg. Man schreibt uns: Eine Sensation für Wasserburg ist zu erwarten. Dem Turnverein Wasserburg ist es gelungen, am Samstag, den 5. Mai 8 Uhr abends im Danningersaale große Boxkämpfe von deutschen und bayer. Meistern zu veranstalten. Der sportliche Leiter, Herr M. Gigler, unterbreitet uns folgendes: Leider hört man heute noch sagen, daß das Boxen ein roher oder gar wilder Sport sei, es ist aber gerade das Gegenteil der Fall: Boxen ist eine edle Kunst der Selbstverteidigung, stärkt den ganzen Körper und ist heute schon zum Volkssport geworden.
(WA 101/1923 vom 3. Mai)

 

 

 

Wie sich in der zweiten Maihälfte alles weiterentwickelt …

…  wird in Teil 10 der Serie zu lesen sein, die in Kürze folgt.

PETER RINK

Bildernachweis:

Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)

Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg

StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt