Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 8 / Es wird militant

Davon abgesehen, dass der Literpreis für Milch in Wasserburg auf 540 Mark angehoben wird, während er in München zeitgleich bei 800 Mark liegt, dass die Stadt dem Stadtbaumeister einen Hofhund für den Bauhof genehmigt und dass Blumenschmuck von Gräbern gestohlen wird, ist „in Wasserburg relativ wenig Spektakuläres passiert“, wie Peter Rink in Bezug auf die zweite Aprilhälfte 1923 zusammenfasst. Der Wert der Mark schwankte ihm zufolge zwischen 21.000 und 30.000 Mark, „wobei der Wertverfall im Laufe dieser 14 Tage deutlich spürbar wurde“. Frankreich habe Unterstützung für seinen harten Kurs an Rhein und Ruhr verloren, gerade die USA und Großbritannien hätten die Franzosen verstärkt zur Mäßigung aufgefordert, „doch Präsident Poincaré, ein gebürtiger Lothringer, war stets voll des Hasses auf Deutschland, und dem Wasserburger Anzeiger war keine Meldung, in der Frankreich bloßgestellt werden konnte, zu unwichtig“. Auffällig sind für den Historiker die häufiger werdenden Meldungen über militante Zusammenstöße zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und die hintergründige Sympathie für die Partei Adolf Hitlers, die auch im Wasserburger Anzeiger immer wieder durchschimmert. Hier der Überblick über die Ereignisse zwischen Mitte und Ende April:

Es geht los mit der allgemeinen  …

CHRONIK für die zweite Aprilhälfte

16. April 1923
In seiner Reichstagsrede signalisiert Reichsaußenminister Friedrich von Rosenberg die deutsche Bereitschaft zur Wiederaufnahme der wegen der Ruhrbesetzung eingestellten Reparationsleistungen, was auf einen Kurswechsel in der Ruhrpolitik schließen lässt.

17. April 1923
Reichspräsident Friedrich Ebert erlässt die zweite auf deutsche Kollaboration im besetzten Ruhrgebiet bezogene Notverordnung, die erste stammt vom 3. März. Der Zusammenarbeit mit den Besatzern verdächtige Personen können nun durch Inhaftierung an der Einreise in die besetzten Gebiete gehindert werden.

Der Vertreter der deutschen Interessen im besetzten Rheinland, Reichskommissar Hermann Graf von Hatzfeldt-Wildenburg, wird von der alliierten Rheinlandkommission ausgewiesen.

In Moskau beginnt der XII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (bis 25. April), an dem Regierungschef Wladimir I. Lenin aus Krankheitsgründen nicht teilnimmt. Leo D. Trotzki, Volkskommissar für Verteidigung, kritisiert die wirtschaftliche Situation.

19. April 1923
Infolge des plötzlichen Sturzes des Markkurses (innerhalb von 48 Stunden sinkt der Wert der Mark um 40 Prozent) kommt es zwischen Vertretern der Reichsregierung und der Reichsbank zu Gesprächen über die wirtschaftliche Lage des Deutschen Reiches.

Vor dem Reichstag weist Reichswirtschaftsminister Johannes Becker auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Deutschen Reichs hin. Angesichts dieser Lage seien Devisenspekulationen scharf zu verurteilen.

Der französische General Maxime Weygand wird zum Hochkommissar für Syrien und Libanon ernannt, die seit 1920 als Völkerbundsmandate unter französischer Herrschaft stehen.

Mit der neuen von König Fuad I. unterzeichneten Verfassung wird in Ägypten die Staatsform der konstitutionellen Monarchie eingeführt.

20. April 1923
Hitler wird an diesem Tag 34 Jahre alt und beschenkt sich mit einem Auftritt vor der Masse im voll besetzten Circus Krone in München, wo er diesmal nicht gegen die „Novemberverbrecher“, also die die Weimarer Republik unterstützenden Demokraten, hetzt, sondern gegen die Juden: „Juden können wir nur dulden, wenn sie uns als Gäste nicht schaden würden. Sie schaden uns aber und deshalb können wir sie als Gäste nicht dulden.“

22. April 1923
Nach der Meldung des Wolffschen Nachrichtenbüros (Berlin) hat die deutsche Reichsregierung die Rede des britischen Außenministers George Nathaniel Marquess Curzon of Kedlestone (20. April) positiv aufgenommen. Lord Curzon hatte sich in seiner Rede kritisch zur französischen Ruhrpolitik geäußert, die „Saat für die Revanche” sei.

25. April 1923
Das satirische Mappenwerk „Ecce homo” (1922) des Malers und Graphikers George Grosz wird wegen angeblich unzüchtiger Darstellungen in Berlin beschlagnahmt.

Ohne Debatte genehmigt der Deutsche Reichstag einen Nachtragsetat von 4,5 Billionen Reichsmark, mit dem die immensen, durch die Ruhrbesetzung entstandenen Ausgaben (Kredite an Ruhrunternehmen, Kohlenimporte u.a.) gedeckt werden sollen.

Nach einer Mitteilung der alliierten Reparationskommission hat das Deutsche Reich 1922 Sachlieferungen im Wert von 695 606 800 Goldmark erbracht. Frankreich erhielt Lieferungen im Wert von 209 064 100 Goldmark, Großbritannien im Wert von 167 851 700 Goldmark.

26. April 1923
Zwischen Anhängern der SPD, KPD und NSDAP kommt es in München zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Vergeblich fordert der Nationalsozialist Adolf Hitler die bayerische Regierung auf, die Maifeiern zu verbieten, weil angeblich ein Linksputsch geplant sei.

27. April 1923
Im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erscheint „Das Ich und das Es” des Österreichers Sigmund Freud. Dieses Werk hat eine grundlegende Bedeutung für die psychologische Forschung des 20. Jahrhunderts.

In einer Erklärung warnen die Bergarbeiterverbände im besetzten Ruhrgebiet vor dem von den Kommunisten propagierten Generalstreik.

29. April 1923
In Hessen wird die NSDAP wegen ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen verboten.

Einstimmig lehnt der Landesrat des Saargebiets die Vorlage der Reparationskommission ab, in der die Einführung der französischen Währung als Zahlungsmittel vorgesehen ist.

Der polnische Ministerpräsident Wladyslaw Eugeniusz Sikorski legt den Grundstein für einen Hafen bei Gdingen (heute Gdynia), der eine Konkurrenz zum Danziger Hafen werfen soll.

30. April 1923
Die von dem Oberbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen, Jean Marie Degoutte, eingeleitete Untersuchung des „Essener Blutbads” (31. März) kommt zu dem Ergebnis, dass sich die französischen Truppen in Gefahr und im Zustand legitimer Notwehr befunden hätten, als sie auf die demonstrierenden Krupp-Arbeiter schossen.

In der zweiten Aprilhälfte verliert der Wert der Mark zirka 30 Prozent seines Wertes. Lag der Wechselkurs für den US-Dollar am 17. April 1923 noch bei 21.097 Mark, so betrug er am 28. April 29.725 Mark.

 

DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ANIMOSITÄTEN

Deutschland soll neue Angebote machen, Deutschland soll die Hand zu Verhandlungen ausstrecken. Auf welcher Grundlage? Auf der Schuldlüge des Versailler Vertrages, die längst entlarvt ist? Außerdem: Poincaré will gar kein Geld. Im Juli 1922 fiel das Wort: Er –  Poincaré – wäre untröstlich, wenn Deutschland bezahlen würde. Man wäre dann verpflichtet, die Rheinprovinz zu räumen. […] „Ich denke, daß es besser ist zu besetzen und zu erobern, als einzukassieren […].“
(WA 86/1923 vom 16. April)

Wasserburg. 17. April. Das finanzielle Ergebnis des vaterländischen Abends vom Samstag zu Gunsten der Ruhrbedrängten beläuft sich nach bisherigen Schätzungen auf die respektable Summe von ungefähr 150 Tausend Mark.
WA 87/1923 vom 17. April)

Anmerkung: Bei einem Wechselkurs von 21.000 Mark für einen US-Dollar wäre das ein Spendenergebnis von 7,15 US-Dollar. Verständlich, denn wenn die Menschen selbst nichts haben, können sie auch schwerlich viel spenden.

Besetzte Bahnhöfe
Von den 206 Bahnhöfen des Ruhrgebiets haben die Franzosen 170 besetzt.
(WA 88/1923 vom 18. April)

Protestkundgebung des bayerischen Landtags gegen die Essener Bluttat
München, 17. April.
Zu Beginn der heutigen Vollsitzung des Landtags, der ersten nach den Osterferien, nahm Präsident Königbauer Gelegenheit, in ebenso würdiger wie entschiedener Weise gegen die unerhörte Osterbluttat der Franzosen in Essen zu protestieren. Das Haus folgte den Ausführungen des Präsidenten stehend und begleitete sie wiederholtmit lebhaften Entrüstungs- bzw. Beifallskundgebungen. Präsident Königbauer führte aus: „An dem Tage, an dem die Osterglocken der Welt die Auferstehung aus Not und Tod und den Osterfrieden verkünden, hat im besetzten Essen krankhafter Siegerhochmut und jämmerliche Feigheit das Leben von 11 braven deutschen Arbeitern vernichtet.“
(WA 89/1923 vom 19. April)

Ausweisungen aus der Pfalz
Am Montag und Dienstag wurden im Direktionsbezirk Ludwigshafen 283 Eisenbahnbeamte und Eisenbahnbedienstete ausgewiesen.
(WA 89/1923 vom 19. April)

Anmerkung: Die französische Besatzung wies Beamten und öffentlich Bedienstete aus dem Besatzungsgebiet aus, wenn diese sich am passiven Widerstand beteiligten. Dadurch wurden diese Menschen zunächst obdachlos.

Ferner ist der Chefredakteur des Mainzer Anzeigers, der am 8. März verhaftet und am 13. April zu 1 Monat Gefängnis und 50.000 Mark Geldstrafe verurteilt wurde, ausgewiesen worden.
(WA 89/1923 vom 19. April)

Verschärfungen
Der Führer der Deutschen Volkspartei, Stresemann, sagte in seiner Erklärung zur Rosenberg-Rede den Satz: „Will Frankreich Reparationen, dann ist eine Verständigung möglich; will es den Rhein und die Ruhr behalten, dann kann es darüber keine Verhandlungen geben.“ Was das französische Volk möchte — zu wollen hat es nichts — wer könnte das sagen? Was Poincaré will, das scheint auf der Hand zu liegen. Er will keine Reparationen, kein Geld, er will nur die Pfänder an Rhein und Ruhr. Er wird die Goldforderungen an Deutschland immer so hoch bemessen, daß Deutschland sie nie begleichen kann; denn er will den Rhein und die Ruhr.
(WA 90/1923 vom 20. April)

Poincarés geheime Sorgen
Paris, 19. April.
In der „Exe Nouvelle“ schreibt Bovet, daß Poincaré der Misserfolg der Ruhraktion klar sei. Doch scheue er sich aus innenpolitischen Gründen dies festzustellen.
(WA 90/1923 vom 20. April)

Maßlose Ausweisungen
Koblenz, 20. April.
Die Rheinlandskommission hat in den letzten Tagen wiederum 1400 Eisenbahner ausgewiesen. Die Zahl der ausgewiesenen und vertriebenen Personen im Rhein- und Ruhrgebiet stellt sich jetzt auf 23.400.
(WA 91/1923 vom 21. April)

Kleider verbrannt
Am Montag vormittag holten französische Soldaten aus den Schränken der Eisenbahner der Stationen Mainz und Kastell sämtliche Kleider und Schuhe heraus, stürzten sie nach einer Meldung der „Frankfurter Zeitung“ auf einen Haufen und verbrannten sie.
(WA 93/1923 vom 24. April)

 

Der bayerische Ministerpräsident bei den vertriebenen Pfälzern
Heidelberg, 23. April
. In Anwesenheit des Bayer. Ministerpräsidenten Dr. v. Knilling fand gestern hier eine Besprechung mit den pfälzischen Flüchtlingen über deren künftige Fürsorge statt. Der aus der Pfalz vertriebene Regierungsrat Mattheus dankte dem Bayer. Ministerpräsidenten, daß er in vorsichtiger Weise im rechtsrheinischen Bayern und bei der Reichsregierung Schritte getan habe, um das Schicksal der Vertriebenen zu erleichtern. Die Franzosen haben in der Pfalz schwere Schläge geführt, die in ihrer Brutalität kaum zu überbieten sind. Sie haben den Autoverkehr in einer Weise beschränkt, daß in der Pfalz die Nahrungsmittel und Kohlenversorgung kaum sichergestellt werden kann. Das Schicksal Deutschlands entscheidet sich durch unser festes Verharren in diesem Kampf. Ministerpräsident Dr. v. Knilling erklärte: Die bayerische Staatsregierung danke den Vertriebenen. Im unbesetzten Gebiet streitet man sich Tag für Tag um Dinge, die gegenüber den gewaltigen Schicksalsfragen des deutschen Volkes nur Nichtigkeiten sind.
(WA 95/1923 vom 26.04.1923)

Anmerkung: Die linksrheinische Pfalz gehörte bis 1945 zu Bayern

 

INFLATIONSAUSWÜCHSE

3 Dutzend verschiedene Banknoten. Vor dem Krieg gab es in Deutschland 11 Sorten Hartgeld und 5 Sorten Papiergeld. Heute ist das Hartgeld verschwunden und die Papierscheine haben sich auf 35 verschiedene Ausgaben vermehrt. Gelangt die neue 100.000-Marknote in den Verkehr, so sind es gerade 3 Dutzend verschiedene Scheine.
(WA 88/1923 vom 18. April)

Anmerkung: Es laufen zu dieser Zeit auch Vorbereitungen zur Herausgabe eines 500-Mark-Stücks.

Wasserburg
. Um Mißverständnissen von vorneherein vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, daß die Fahrt Wasserburg-Vilsbiburg u. zurück zusammengenommen 1.800 Mk. kosten wird, nicht etwa die einfache Fahrt allein!
(WA 89/1923 vom 19. April)

Wasserburg. (Die Unfallrenten), welche ab 1. April erhöht wurden, erfahren ab 1. Mai eine neuerliche Erhöhung um 75 Prozent. Da alle, welche in den Genuß dieser Erhöhung treten, durch das Wasserburger Postamt mittels Postkarte verständigt werden, können sich jene, welche keine solche Verständigung erhalten, zeitraubende Anfragen sparen.
(WA 97/1923 vom 28. April)

INNENPOLITIK: AUF DEM RECHTEN AUGE BLIND
Anmerkung: In einigen Ländern wurde die NSDAP verboten, in Bayern aber nicht und deshalb konzentrierte diese Partei ihre Aktivitäten gerne auf Bayern, zumal sie hier besser vor Verfolgung durch die Behörden geschützt schien.

Ein Diktator
Der „Völkische Beobachter“, das nationalsozialistische Parteiorgan, schreibt zu dem Haftbefehl gegen Eckart (Anmerkung: Verleger des Blattes und Anhänger des Nationalsozialismus): „Wir erwarten von der bayerischen Regierung, daß sie in Erkenntnis ihrer selbstverständlichen Pflicht dem deutschen Volke gegenüber sofort eine Erklärung abgibt, daß sie den vom Staatsgerichtshof ausgesprochenen Haftbefehl nicht anerkennt. Sie hat im Gegenteil zu fordern, daß sofort die gesamte kommunistische Partei aufgelöst, ihre Gelder beschlagnahmt, ihre Zeitungen aufgehoben, ihre Führer verhaftet werden. Die Deutschen-Verfolgung hat aufzuhören, der Schutz des Deutschtums zu beginnen.“
(WA 86/1923 vom 16. April)

Die Vorladungen gegen den Staatsgerichtshof
Außer Eckart und Weger soll auch gegen Adolf Hitler ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig schweben. Der „Völkische Beobachter“ erklärt in seiner geläufigen Drohmanier, daß die Geduld der Bayern zu Ende sei und daß sich auch die bayerische Regierung „darnach zu richten hätte, was man sich endlich merken solle“.
(WA 90/1923 vom 20. April)

Unnütze Erregung
In München werden im Zusammenhang mit der Angelegenheit der vom Staatsgerichtshof in Leipzig angeordneten Verhaftung der Schriftleiter Dietrich Eckart und Weger allerlei aufreizende Gerüchte verbreitet, deren Tendenz ebenso durchsichtig wie gefährlich ist. So heißt es, daß von außerhalb Bayern Kriminalpolizeiorgane im Anzug wären, um diese Verhaftung zu vollziehen. Sogar von Zuziehung von außerhalb München garnisonierter Reichswehr wird gefaselt. An all diesem Gerede, das den Zweck verfolgt, Unruhe zu erregen und die persönliche Angelegenheit des Herrn Dietrrich Eckart und Weger, an denen die große Oeffentlichkeit recht wenig Interesse hat, zu einer Staatsaktion aufzubauschen, ist natürlich kein wahres Wort.
(WA 92/1923 vom 23. April)

Anmerkung: Eckart hatte im März 1923 den Reichspräsidenten Ebert beleidigt. Beleidigungen von Staatsorganen wurden damals strafrechtlich verfolgt. Die Beschimpfung des Reichspräsidenten als „Landesverräter“ reichte dem Staatsgerichtshof, Eckart mit Haftbefehl verfolgen zu lassen. Die bayerischen Justizbehörden nahmen sich dieses Haftbefehls aber nicht an, da sie nicht unerheblich selbst nationalsozialistisch gesinnt waren. Als sich am 21. April Beamte des Gerichtshofes auf die Suche nach Eckart machten, floh dieser mit der Hilfe von SA-Führer Ernst Röhm. Und es ging weiter:

Der Fall Weger — Eckart
München, 25. April.
In Miesbach wurde gestern in den frühen Morgenstunden der Versuch gemacht, den Haftbefehl gegen den Redakteur Weger zu vollziehen. Er wurde jedoch nicht in seiner Wohnung angetroffen und seine Frau verweigerte jede Auskunft über seinen Aufenthalt.(WA 95/1923 vom 26. April)

Die Affaire Eckart — Weger
München, 27. April.
Während der Redakteur des Miesbacher Anzeiger, Weger, es vorgezogen hat, sich der drohenden Verhaftung durch die Flucht zu entziehen, hat der Herausgeber des Völkischen Beobachters, Dietrich Eckart, ein ärztliches Attest beigebracht, daß er nicht haftfähig sei. Dieses Attest unterliegt gegenwärtig der Prüfung durch den zuständigen Gerichtsarzt. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, ob Eckart auch nicht transport- und verhandlungsfähig ist, sodaß unter Umständen, wenn auch kein Haftbefehl so doch ein Vorführungsbefehl in Frage käme.
(WA 98/1923 vom 30. April)

Anmerkung: Der 55-jährige Dietrich Eckart war tatsächlich ausgezehrt wegen seiner Morphiumsucht und seines massiven Alkoholismus. Auch ein literarischer Erfolg wollte ihm nicht gelingen, weshalb er schließlich Hitler nach besten Kräften ermöglichen wollte, Führer in Deutschland zu werden. Eckart beschrieb die Talente Hitlers wie folgt: „Verstand braucht er nicht viel, Politik ist das dümmste Geschäft auf der Welt. Er muss Junggeselle sein. Dann kriegen wir die Weiber.“
(Vgl. Christian Bommarius, Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, München 2022, S. 101)

Ergänzende Anmerkung: Ich fand es interessant, wie die Sorge um einen nationalsozialistischen Putsch in Bayern heruntergespielt wurde und auch der Wasserburger Anzeiger sich an dieser Bagatellisierung beteiligt hat. Am 9. November 1923 kommt es ja bekanntlich dann zum „Hitler-Putsch“ in München. All das zeigt, dass man in Bayern lange auf dem rechten Auge blind war.

SONSTIGE NEUIGKEITEN IN DER ZWEITEN APRILHÄLFTE 1923

 

WASSERBURG UND UMGEBUNG IN DER ZWEITEN APRILHÄLFTE 1923

Wasserburg, 16. April. Im Gnadenalter von 90 Jahren ist der älteste Wasserburger nunmehr heimgegangen, der ehemalige Schuhmacher N. Christaller. Er starb im Hl. Geist-Spital, wo er einen langen Lebensabend verbrachte. Der Verblichene war ein äußerst fleißiger alter Herr, dem peinlichste Sauberkeit ein Lebensbedürfnis war. Als Träger hat er sich lange Jahre um den Anzeiger verdient gemacht.
(WA 86/1923 vom 16. April)

Anmerkung: Und da sage noch einer, früher hätte man die einfachen Menschen weniger gewürdigt!

Wasserburg, 16. April (Realschule). Die hiesige Realschule wird zu Beginn des Schuljahres von 176 Schülern besucht, worunter sich 147 Knaben und 29 Mädchen (nahezu 18 Prozent) befinden.
(WA 86/1923 vom 16. April)

Ingolstadt, 13. April (Leichenschändung). Der Friedhofaufseher Martin Härtl von hier ist verhaftet worden, da er unter dem Verdacht steht, die Leiche des vor 12 – 13 Jahren verstorbenen Oberleutnants Baader, die in einem Zinksarg beerdigt worden war, ausgegraben, aus dem Sarg herausgenommen und diesen verkauft zu haben. Härtl wird auch weiterhin mit den vielen Diebstählen und Grabschändungen, die in letzter Zeit auf dem hiesigen Friedhof vorgekommen sind, in Verbindung gebracht.
(WA 86/1923 vom 16. April)


Bekanntmachung des Stadtrates Wasserburg

Am Samstag, den 21. April 1923 von 8—12 Uhr vormittags findet im Rathause (Sanitätskolonnendepot) die ordentliche
Hundevisitation für 1923 statt.

Dieser Termin wird gleichzeitig für die Hundeanmeldung und Abgabenentrichtung festgesetzt.

Die Abgabe dahier beträgt:
für jeden ersten Hund                                  2.000 Mark
für jeden zweiten Hund                                5.000 Mark
für jeden dritten Hund                                10.000 Mark
im ganzen Gemeindebezirk.

Bissige Hunde müssen mit einem Beißkorb versehen sein.
(WA 89/1923 vom 19. April)

Schonstett. Es wird uns geschrieben: Die Pfarrei Schonstett rüstet gegenwärtig zu einem schönen Feste, nämlich am 1. Mai, also am Feste der Maienkönigin, werden die neuen Kirchenglocken, die in der Glockengießerei Bachmair-Erding gegossen wurden, aufgezogen. Schonstett erhält somit wieder ein ganzes melodisch-harmonisches Geläute im Ton D E G A. Wie wir hören, belaufen sich die Kosten der Neuanschaffung auf mehrere Millionen. Diese hohe Summe ist durch freiwillige Spenden vollständig gedeckt; fürwahr, ein herrlicher Opfergeist. — Hoffen wir, daß die neuen Kirchenglocken hier und überall nicht das Los der alten abgelieferten teilen müssen; es sollen dauernde Friedensglocken sein. Das walte Gott!
(WA 92/1923 vom 23. April)

Das Amtsgericht Rosenheim verurteilte wegen begangener Milchpreistreiberei die Milchhändlerin Amalie Litzlfelder zu 60.000 Mk. Geldstrafe bzw. 1 Jahr Gefängnis und Entzug der Erlaubnis zum Milchhandel.
(WA 95/1923 vom 26. April)

Sitzung des Stadtrates Wasserburg a. I.
vom 12. April 1923

Nach Vorschlag des Finanzausschusses wurde u.a. folgendes bestimmt: Die Löhne der Stadtarbeiter werden ab 10. April 1923 erhöht.
Die Monatsvergütung des Schlachthofaufsehers u. Freibankmetzgers Max Bierwirth wird ab 1. Januar auf 6.000 Mark erhöht.
Stadtbaumeister Schwarzenberger erhält für das Halten eines Hofhundes im Städt. Bauhof eine monatliche Vergütung von 1.500 Mark aus der Stadtkasse unter der Bedingung, daß der Hund sich während der Nacht im Bauhof frei bewegen kann. Die fällige Hundesteuer übernimmt der Stadtrat.
(WA 97/1923 vom 28. April)

Wasserburg. Wie uns erzählt wird, reißt auf dem hiesigen Friedhof wieder die für die Betreffenden recht beschämende Gewohnheit ein, von den Gräbern Blumen fortzunehmen. Ganz abgesehen davon, daß heute die Instandhaltung eines Grabes, besonders das Schmücken mit Blumen nicht geringe Kosten verursacht, ist es entweder betrübliche Gedankenlosigkeit oder pietätlose Gefühlsroheit, das abzureißen oder gar in diebischer Absicht zu nehmen, was frommer Sinn und treue Anhänglichkeit den Toten geschenkt.
(WA 98/1923 vom 30.04.1923)

Wasserburg, 30. April (Georgimarkt). Der gestrige Marktsonntag wies sehr zahlreichen Besuch auf, auch das Wetter war besser, als man es für unseren Georgimarkt gewohnt ist. Die drei Lokale, in denen Tanzmusik veranstaltet war, erfreuten sich eines besonders regen Zuspruchs.
(WA 98/1923 vom 30. April)

 

In der zweiten Aprilhälfte wird der Unmut über die Franzosen immer lauter, werden die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten militanter und zunehmende Sympathien für Adolf Hitler deutlicher …

…  wie in Teil 8 der Serie zu lesen sein wird, die in Kürze folgt.

PETER RINK

Bildernachweis:

Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)

Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg

StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt