Zwei Gutachter stellen ihre Expertisen im Landgericht vor und bescheinigen dem Angeklagten emotionale Labilität 

Eigentlich sollte gestern, so sah es die ursprüngliche Planung des Landgerichts Traunstein vor, das Urteil im Mordpprozess Hanna W. gefällt werden. Doch die Tatsache, dass immer wieder zusätzliche Sachverhalte, Indizien und Sichtweisen in die Beweisführung einbezogen werden mussten und die Tatsache, dass der Angeklagte zu den Vorwürfen gegen ihn beharrlich schweigt, haben dazu geführt, dass ein Urteil wohl frühestens im Februar 2024 gesprochen werden kann. gestern legten zwei Gutachter ihre Ergebnisse vor.

Der Angeklagte, Sebastian T., sagt weiterhin nichts aus vor Gericht. Am 22. Verhandlungstag in der Mordsache Hanna W., kam gestern als erstes die Psychotherapeutin Nicole Liwon aus München zu Wort. In ihrem Gutachten, das sie vor dem Gericht erstattete, wies sie darauf hin, dass sie bei Sebastian T. Reifeverzögerungen erkennen könne. Sie habe mehrere Tests durchgeführt, auch Intelligenztests, auch einen Konzentrationsbelastungstest, ebenso Sprachtests.

Dabei sei ihr aufgefallen, dass seine Denkgeschwindigkeit leicht vermindert sei, seine verbale Intelligenz unterdurchschnittlich. Insgesamt habe sie einen IQ von 80 hinsichtlich der Denkgeschwindigkeit ermittelt. Der Konzentrationsbelastungstest habe keine Hinweise auf eine hirnorganische Beeinträchtigung ergeben. Ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom sei hingegen mittelgradig erkennbar.

Allerdings sei Sebastian T. emotional labil, kontaktscheu und besonders gegenüber Frauen gehemmt. Andererseits könne man eine hohe soziale Orientierheit feststellen. Sebastian T. sei gesundheitlich robust und unbekümmert. Eine Ablösung vom Elternhaus habe noch nicht stattgefunden. Bis zu seiner Inhaftierung im November 2022 habe er im Elternhaus gewohnt. Obwohl sein IQ eher leicht unterdurchschnittlich sei, könne man keine psychiatrischen Störungen feststellen, wenngleich eine Reifeverzögerung feststellbar sei. Auch sexuelle Auffälligkeiten habe sie nicht feststellen können.

Bei Straftaten, die von Personen im Alter von 18 bis unter 21 Jahren begangen werden, kann ein Gericht entscheiden, ob ein Angeklagter nach dem Strafrecht für Erwachsene oder für Jugendliche zu verurteilen ist. Im vorliegenden Fall plädierte die Gutachterin für die Beurteilung im Jugendstrafrecht wegen dieser festgestellten Reifeverzögerungen. Sebastian T. war im Oktober 2022 20 Jahre alt.

Im Anschluss an Nicole Liwon wurde der Psychotherapeut Dr. Rainer Huppert aus Berg um sein Gutachten gebeten. Er trug vor, dass er den Angeklagten insgesamt viermal in der JVA Traunstein aufgesucht habe. Im Verlaufe der Treffen habe Sebastian T. sich in gewisser Weise dem Gutachter gegenüber zugänglich gezeigt.

Er fügt hinzu, dass Sebastian T. seit seiner Kindheit starke psycho-soziale Integrationsprobleme gehabt habe, auch grobmotorische Störungen hätten festgestellt werden können. In der Schule sei er anfänglich gerne zum „Klassenclown“ gemacht worden. Die Probleme, mit denen er sich konfrontiert sah, habe er nicht alleine lösen können, sei aber auch nicht in der Lage gewesen, sich Hilfe zu holen.

Rainer Huppert berichtet weiterhin, dass Sebastian T. in seiner Kindheit und Jugend mehrfach gekränkt worden sei. So habe er gegen Mädchen beim „Armdrücken“ verloren und bei den Pfadfindern beim „Seilziehen“ verloren. Wegen seiner Körpergröße sei er in der Fahrschule gefragt worden, ob er einen Kindersitz benötige.

Sebastian T. habe sich dem Gutachter gegenüber als „einsamen Menschen“ beschrieben.

Während seiner Ausbildungszeit sei er als williger, doch schnell überforderter Auszubildender mit einer hohen Kontaktsehnsucht empfunden worden. Er sei immer Außenseiter und Einzelgänger gewesen. Es habe zwar multiple Entwicklungsauffälligkeiten gegeben, aber diese seien nicht pathologisch zu nennen, ergänzt Rainer Huppert. Von einer Persönlichkeitsstörung könne man deshalb nicht ausgehen.

Rainer Huppert ging dann auf jenen Nachmittag ein, an dem Sebastian T. so heftig gegen die Zellenwand in der JVA Traunstein geschlagen habe, dass er sich seinen Mittelhandknochen gebrochen habe. Dabei sei manches zusammengekommen. Die Beziehung zu seinen Großeltern war wohl recht intensiv und an jenem Nachmittag habe er erfahren, dass nicht nur sein Kaninchen gestorben sei, sondern auch sein Großvater. Darüber sei er sehr traurig gewesen und habe sich „dann sehr über sich selber geärgert“, wie Rainer Huppert ergänzte. Wenn man bei diesen Ausführungen den Angeklagten beobachtete, konnte man eine gewisse Traurigkeit erahnen.

Reifeverzögerungen habe aber auch er beim Angeklagten feststellen können. Die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe wurde zum Abschluss des Verhandlungstages vernommen und bestätigte den Befung, dass beim Angeklagten „Reifeverzögerungen erkennbar“ gewesen seien.

Durch diese dreifache Begutachtung der Reifeverzögerung dürfte es wohl nun gute Argumente geben, Sebastian T., wenn es denn zu einer Urteilsspruch kommen sollte, nach Jugendstrafrecht zu verurteilen.

Richterin Jacqueline Aßbichler erbat zum Abschluss noch Rückfragen von den Prozessbeteiligten und dann ging das Gericht in die Weihnachtspause. Am 4. Januar um 14 Uhr wird der Prozess fortgesetzt.

RP