Neue Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 2 / Die Not wird immer größer

Dass im Januar 1923 eine Busfahrkarte von Wasserburg nach Amerang 260 Mark kostete, dass Strom für 200 Mark die Kilowattstunde zu haben war und dass ein Brief für 50 Mark verschickt werden konnte, war in Teil I unserer neuen Serie „1923 – Wasserburg vor 100 Jahren“ zu lesen gewesen. Wie sich die Lage im Folgenden immer weiter verschlechterte, warum das Brot in Wasserburg teurer wurde als in München und wie allein der Hunger viele Menschen in Tod trieb, hat Peter Rink für die Wasserburger Stimme anhand des damaligen Wasserburger Anzeigers (WA) zusammengetragen.

Es geht los mit der allgemeinen  …

Chronik für die Zeit ab Mitte Januar 1923

15. Januar 1923
Französische Truppen besetzen Bochum, Witten, Recklinghausen und Dortmund.
18. Januar 1923
Der Wert des US-Dollars erreicht einen Stand von 23.000 Mark.
24. Januar 1923
Wegen der Weigerung, Kohle an die Besatzungsmächte zu liefern, werden der Zechenbesitzer Fritz Thyssen und weitere Industrielle vom französischen Kriegsgericht in Mainz zu hohen Geldstrafen verurteilt.
26. Januar 1923
Das Londoner Ultimatum der alliierten Reparationskommission wird in Kraft gesetzt.
Deutschland ist damit zu jährlichen Zahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden Mark verpflichtet.
27. bis 29. Januar 1923
Erster Parteitag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in München.
Innerhalb eines Jahres ist die Mitgliederzahl der Partei von 6.000 auf 55.000 angestiegen.
31. Januar 1923
Der Dollarpreis wird auf 45.000 Mark festgesetzt.

 

Die Ruhrbesetzung und der passive Widerstand
Am 11. Januar waren französische und belgische Truppen ins Rheinland und das Ruhrgebiet einmarschiert. Sie wollten damit gewährleisten, dass Deutschland den Reparationszahlungen nachkommt. Die Deutschen reagierten mit dem „passiven Widerstand“. Dieser hatte viele Facetten:

Als Reaktion auf die Ruhrbesetzung haben Hoteliers und Gastwirte beschlossen, Franzosen und Belgier in Hotels nicht aufzunehmen, sie in Gaststätten nicht zu bedienen und französische und belgische Zeitungen nicht in Hotels und Gaststätten aufzulegen.
„Wasserburg. – Infolge der Ruhrbesetzung muß mit einem Rückgang der Kohlenförderung von mindestens 100.000 Tonnen täglich gerechnet werden, was einen Rückgang in der Belieferung der deutschen Kohlenverbraucher zur Folge haben wird. Die Folge dieser Sachlage wird ein steiler Anstieg der Kurzarbeit in zahlreichen Betrieben sein, bei einer weiteren Verschärfung des Kohlenmangels die Zunahme der Arbeiterentlassungen sein. In Berlin ist die Zahl der Arbeitslosen bereits Anfang Januar binnen einer Woche von ca. 7.000 auf ca. 58.000 angewachsen.“
„München – An verschiedenen großen Geschäften kann man bereits das Plakat lesen: ‚Den Franzosen und Belgiern ist das Betreten des Geschäftes verboten. An sie werden keine Waren verkauft‘.“
(WA 18/23 vom 23. Januar 1923)

 

Wurden Güter nach Frankreich oder Belgien geliefert, zog dies in der Tagespresse regelmäßig einen Sturm der Entrüstung nach sich, wie folgende Meldung zeigt:


Für die französischen Weiber

Geradezu aufreizend muss es wirken, wenn man hört, daß vom Herbst 1920 bis Sommer 1922 vom Reich folgende Damenbedürfnisse für die Franzosen im besetzten Gebiet befriedigt werden mussten: 800 Damenschreibtische, 500 Frisiertoilette, 200 Bidets, 1.600 Bügeleisen, 18.000 Teppiche, 175.000 Servietten, 6.900 Speiseservices, 8.000 Kaffeeservices, 36.000 Kaffeetassen, 72.000 Weißweingläser, 51.000 Rotweingläser, ca. 15.000 Portweingläser, 45.000 Sektgläser, 58.000 Likörgläser, 26.000 Biergläser, 9.000 Weinkaraffen. An Leinwandstoffen für Bettwäsche der Besatzungen hätten rund 3.000 Kilometer Leinwandstoff ins besetzte Gebiet wandern müssen.“
(WA 19/23 vom 24. Januar 1923)

 

Brot in Wasserburg teurer als in München
Mit dem Fortschreiten der Inflation können sich die Menschen immer weniger leisten, weil die Löhne nicht entsprechend mit ansteigen:

„Wasserburg. – Von der Bäckerinnung wird uns geschrieben: In Verbraucherkreisen herrscht vielfach darüber Unklarheit, wie es kommt, daß der Preis für 1 Pfund Markenbrot in München 150 Mk. und im Bezirk Wasserburg 160 Mk. beträgt.
In München beträgt der Abgabepreis des Markenmehls an die Bäcker 14.326 Mk. pro Zentner und damit um 1.574 Mk. weniger als in Wasserburg. Nachdem ab 15. Januar in München eine neue Lohnregelung im Bäckergewerbe stattgefunden hat, derzufolge ein erster Gehilfe wöchentlich 21.500 Mk. erhält, wird der dortige Brotpreis kaum mehr lange zu halten sein.“
(WA 17/1923 vom 22. Januar 1923)
Und erneut macht der WA auf Preisunterschiede aufmerksam: „Wasserburg. – Die Süddeutsche Mühlenvereinigung hat neuerdings den Richtpreis für Weizenmehl ‚Spezial 0‘ auf 140.000 Mark für einen Doppelzentner einschließlich Sack ab Mühle weiter erhöht. In Berlin wird der Weizenmehlpreis hingegen mit 94.000 bis 99.500 Mark notiert. Auch heute sei die Frage gestellt: woher dieser Unterschied?“ 

Und noch ein Vergleich wurde im WA im Januar 1923 aufgestellt:
„Heute kostet ein Pfund Futter für Kanarienvögel 600 Mark. Da dieses Futter für einen Vogel ca. drei Monate reicht, kommen auf den Monat 200 Mk. Ein Betrag, mit dem früher ein Mensch sehr gut leben konnte.“

 

Hunger und Entbehrung führen zu vermehrt zu Krankheiten und Todesfällen. So meldet der WA:

Der Niedergang der Volksgesundheit
Im preußischen Landtag erklärte der Volkswohlfahrtsminister Hiertsiefer, daß seit Jahresfrist eine deutliche Verschlechterung unseres Gesundheitszustandes als Folge des wirtschaftlichen Druckes festzustellen sei. Eine beträchtliche Zunahme der Erkältungskrankheiten und Todesfälle ist zurückzuführen auf die Kohlenlieferungen an die Entente. Zahlreiche Familien, namentlich der städtischen Bevölkerung, führen ein Hungerdasein. Die Todesfälle infolge Hungers und die Selbstmorde aus Hunger und Verzweiflung mehren sich. Schon werden aus den letzten Monaten 361 Fälle von Skorbut, einer ausgesprochenen Hungerkrankheit mit fünf Todesfällen gemeldet. Die bisher geringe Säuglingssterblichkeit nimmt seit Mitte 1922 zu. Hunderttausende unserer Kinder erhalten keinen Tropfen Milch mehr. Viele Kinder haben kein Hemd. Die Säuglinge werden in Zeitungspapier eingewickelt. Zahlreiche Säuglingsheime, Kinderkrippen und Kreiskrankenhäuser haben bereits schließen müssen.“
(WA 20/23 vom 25. Januar 1923)

 

Erzdiözese ruft zur Solidarität auf: Fasching kein Freibrief für Genuss
Am 30. Januar 1923 veröffentlicht der WA einen oberhirtlichen Aufruf der Erzdiözese München-Freising, in dem zunächst auf das unsagbare Elend in Deutschland hingewiesen wird: Hunderttausende hätten kein Stücklein schwarzes Brot, um den Hunger zu stillen, kein noch so armseliges Stück Tuch oder Wolle, um sich vor Kälte zu schützen, keinen menschenwürdigen Raum zur Wohnung, nicht Holz und Kohle, um sich und den Kindern eine Suppe zu kochen. Die Erzdiözese schlägt auf Basis dieser Begründung eine erhöhte Einschränkung des Lebensalltages vor: „Für uns soll der heurige Fasching nicht ein Anlaß und Freibrief zu Lustbarkeit, Genuß und Verschwendung sein. Weg mit Tanz und Gelagen, weg mit Alkohol und Nikotin, solange Tausende unserer Mitbrüder und Mitschwestern die Opfer des Hungers und der Kälte werden!“


Armut in Wasserburg
„Die erste Beerdigung ohne Holzsarg hat dieser Tage stattgefunden. Ein alter Mann im Alter von 76 Jahren starb im Distriktskrankenhause und ist mit einem Papiersack der Erde übergeben worden.“
Die Zustände führten auch dazu, dass junge Menschen sterben mussten: So ist am 23. Januar 1923 die elfjährige Maria „von ihren Leiden“ erlöst worden, wie es heißt.
Und mit weiteren Gebührenerhöhungen geht es in Wasserburg in den Februar 2023:
In seiner Sitzung am 18. Januar 1923 hat der Stadtrat von Wasserburg beschlossen, ab 1. Februar 1923 die Gebühren für Müllabfuhr um 300% zu erhöhen.
Ab 1. Februar 1923 wird auch der Abopreis für den WA nochmals erhöht, auf nunmehr 900 Mark pro Monat.

Wie sich die Verzweiflung der Menschen allmählich in zunehmende Aggressivität verwandelt und wie die nationalsozialistische Bewegung langsam Fahrt aufnimmt …
… ist in Teil 3 der Serie zu lesen, die in Kürze folgt.

PETER RINK

Bildernachweis:

Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)

Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg

StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt