Nach zehn Jahren Medienprävention beim Gesundheitsamt Rosenheim: Sozialpädagoge Martin Seidl zieht Bilanz

Martin Seidl informiert als Sozialpädagoge und Fachkraft im Bereich Medienprävention beim Staatlichen Gesundheitsamt Rosenheim Schulklassen von der dritten bis zur achten Klasse – zu Themen wie Cybermobbing, Gefahren im Netz oder auch zum Umgang mit Mobiltelefonen oder Onlinespielen.

Nach zehn Jahren zieht er in einem persönlichen Kommentar Bilanz.

Der Einstieg beginnt immer früher

„Immer früher kommen Schulkinder mit Handys, Spielekonsolen, Tablets und Co in Kontakt. Vor einigen Jahren kannten Viertklässler noch keine Apps wie TikTok oder Instagram. Heute nutzen sie schon am Morgen Youtube. Habe ich früher noch an die Eltern appelliert, dass Grundschulkinder keine Handys haben sollten, kommen sie jetzt mit Smartwatches in die Schule. Onlinespiele mit virtuellen Freunden sind heute normal. Auch die Gefahren im Netz werden immer realer: Vier Mädchen in einer fünften Klasse erzählten mir erst vor Kurzem, dass sie Penisbilder von Männern erhalten haben oder Aufforderungen, sich selbst nackt zu zeigen. Übrigens: ein Fall für die Polizei – das ist Kindesmissbrauch“, sagt Seidl.

 

Präventionsarbeit versus App- und Software-Industrie

Der Sozialpädagoge weiter: „In meiner Zeit als Medienpädagoge konnte ich vielen Eltern Tipps und Orientierung geben. Dennoch habe ich einen Gegenspieler: Die Software-Industrie. Um uns länger am Spiel zu halten und möglichst viel über uns herauszufinden, wird unser Verhalten beobachtet und analysiert. Das ist auch gar nicht schwer. Schließlich tippen wir unsere Gedanken lieber bei Google ein als darüber zu reden. Über timeline.google.com sehen alle Nutzer eines Google-Accounts, wo sie in den zurückliegenden zehn Jahren waren. Ein Beispiel: Vor kurzem war ich in einem Uhrengeschäft – nur ein paar Minuten. Ich erkundigte mich nach einer bestimmten Marke. Am nächsten Tag bekam ich von Google Lesevorschläge – eben zu dieser Uhr. Erschreckend, oder? Deshalb rate ich in meinen Vorträgen eher dazu, offline zu spielen als online. Denn Onlinespiele bedeuten Tracking. Onlinespiele bedeuten auch, Beziehungen zu virtuellen Fremden einzugehen, statt zu Freunden. Onlinespiele haben einen höheren Suchtfaktor. Denn: Online-Angebote hören im Gegensatz zu analogen Spielen nie auf.“

 

Humanisierung statt Digitalisierung

Seidl: „Politik und Gesellschaft fordern mehr Digitalisierung, auch im Bildungswesen. Es gibt immer mehr „Tablet Klassen“, Smartboards oder WLAN -Hotspots in Pausenhöfen. Bei meinen Elternvorträgen erlebe ich verzweifelte Eltern, die die Bildschirmzeit ihrer Kinder reduzieren wollen. Doch fordern auch die Schulen, nicht zuletzt wegen Corona, immer mehr den Einsatz von Bildschirmmedien. Hier ist Differenziertheit gefragt. Ich denke, das kann gut klappen und sinnvoll sein. Wir sollten dabei aber nicht aus den Augen verlieren, wie viel Zeit ein Kind insgesamt täglich sitzend vor Bildschirmen verbringt.

Wir sind Menschen und haben menschliche Bedürfnisse, die sich zum Großteil in menschlichen Beziehungen ausdrücken. Das ist unsere Basis. Kinder brauchen diese Basiserziehung. Ich muss die Gesichtsausdrücke eines Menschen kennenlernen. Ich muss lernen, wie ich mich entschuldige oder mich so ausdrücke, dass es mein Gegenüber versteht. Das braucht Zeit und die fehlt uns, wenn wir sehr viel Zeit vor Bildschirmen verbringen. Natürlich gibt es auch noch die Kinder, die draußen spielen, neugierig sind, einen Purzelbaum machen oder ein Lager am Waldrand bauen. Ich denke, das hat sehr viel mit der Nutzungsdauer der Geräte zu tun – und mit der Vorbildfunktion der Eltern und der Lehrer. Fakt ist: Wenn wir beides wollen, also gute Persönlichkeitsentwicklung und digitale Bildung, dann brauchen wir gute Ressourcen und gute pädagogische Konzepte.

Wichtige Bezugspersonen für die Kinder sind die Lehrkräfte, aber auch die Kräfte der Schulsozialarbeit oder der Nachmittagsbetreuung. Immer weniger Kinder haben ein starkes familiäres Netzwerk. Oft weichen echte Vorbilder virtuellen Influencern. Umso mehr brauchen diese Kinder eine starke Schule, ein verlässliches Bildungswesen.

Digitale Bildung? Ja, natürlich. Aber: Die humane Bildung als Basis darf nicht verloren gehen. Die Bildung durch Menschen ist meiner Meinung nach der Grundstein für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung.“